Traumsammler: Roman (German Edition)
das sie unweigerlich über ihre Tochter gebracht hätte. Aber jetzt sehe ich Madaline, wie Mamá sie vermutlich schon immer gesehen hat: Madaline als kühle, strategisch denkende Kartographin, die in aller Ruhe die Landkarte ihrer Zukunft zeichnet und ihre Tochter, diesen Klotz am Bein, kaltblütig außen vor lässt. Und sie hatte großen Erfolg damit, jedenfalls laut dieses Nachrufs, der ihr ein distinguiertes Leben, ein Leben voller Respekt, Anmut und Ruhm zuschreibt.
Ich kann das nicht so einfach schlucken. Ihren Erfolg und die Tatsache, dass sie mit allem davongekommen ist. Ich finde das ungeheuerlich. Hat sie denn keinen Preis dafür bezahlt, wurde ihr nie die Rechnung aufgemacht?
Doch während ich die Zeitung zusammenfalte, kommen mir Zweifel. Ich habe die leise Ahnung, Madaline zu schnell verurteilt zu haben, gar nicht so anders zu sein als sie. Haben wir uns denn nicht beide nach dem Entkommen gesehnt, nach einer Neuerfindung unserer Persönlichkeit, einer neuen Identität? Haben wir uns nicht beide am Ende befreit, indem wir das Tau des Ankers kappten, der uns festhielt? Ich versuche, diesen Gedanken abzuschütteln, will mir einreden, dass wir einander in keiner Weise gleichen, spüre aber, dass meine Wut vielleicht nur ein Ausdruck von Neid ist – vielleicht beneide ich sie, weil sie in allem erfolgreicher war als ich.
Ich werfe die Zeitung weg. Gut möglich, dass Thalia davon erfährt, aber sicher nicht von mir.
* * *
Mamá schob die geschälten Möhrenstreifen mit einem Messer vom Tisch in eine Schale. Sie verabscheute es, wenn man Nahrungsmittel vergeudete. Sie würde aus den Streifen Marmelade kochen.
»Du stehst vor einer schweren Entscheidung, Thalia«, sagte sie.
Thalia drehte sich zu meiner Überraschung zu mir um und fragte: »Was würdest du tun, Markos?«
»Oh, ich weiß genau, was er tun würde«, warf Mamá ein.
»Ich würde nach England fahren«, sagte ich zu Thalia, sah zu Mamá und genoss es, den rebellischen Sohn zu geben, für den sie mich hielt. Ich meinte es allerdings ernst und glaubte nicht, dass Thalia auch nur eine Sekunde zögern würde. Ich hätte diese Chance sofort beim Schopf gepackt. Eine Privatschule. In London.
»Denk darüber nach«, sagte Mamá.
»Das habe ich schon«, sagte Thalia zögernd. Und sie sprach noch langsamer, als sie Mamá in die Augen sah: »Ich möchte aber nicht anmaßend sein.«
Mamá legte das Messer weg. Sie atmete deutlich hörbar aus. Hatte sie die Luft angehalten? Ihre stoische Miene zeigte keine Spur von Erleichterung. »Die Antwort lautet ja. Natürlich lautet sie ja.«
Thalia fasste Mamá über den Tisch hinweg am Handgelenk. »Vielen Dank, Tante Odie.«
»Ich sage das nur ein einziges Mal«, warf ich ein. »Ich halte das für einen Fehler. Ihr begeht beide einen Fehler.«
Sie drehten sich zu mir um.
»Möchtest du, dass ich fahre, Markos?«, fragte Thalia.
»Ja«, antwortete ich. »Ich würde dich schrecklich vermissen, das weißt du. Aber du darfst dir diese Privatschule nicht durch die Lappen gehen lassen. Du könntest Wissenschaftlerin werden, Forscherin, Erfinderin, Professorin. Willst du das denn nicht? Du bist der klügste Mensch, den ich kenne. Du könntest so viel aus dir machen.«
Ich verstummte.
»Nein, Markos«, sagte Thalia müde. »Nein, das könnte ich nicht.«
Sie sagte das mit einer Endgültigkeit, die jeden weiteren Einwand ausschloss.
Sie hatte natürlich recht.
Viele Jahre später, zu Beginn meines Studiums der plastischen Chirurgie, begriff ich etwas, das ich damals, als ich Thalia in der Küche bedrängt hatte, auf das Internat zu gehen, noch nicht gewusst hatte. Ich begriff, dass die Welt nicht in einen hineinschauen kann, dass sie keinen Pfifferling auf die Hoffnungen, Träume und Sorgen gibt, die sich hinter Haut und Knochen verbergen. So einfach, so absurd und auch so grausam es klingen mag. Meine Patienten wussten das. Sie wussten genau, wer sie waren, sein würden oder sein konnten, sie wussten, dass dies von der Symmetrie ihres Knochenbaus abhing, von dem Abstand zwischen ihren Augen, der Länge ihres Kinns, der Neigung ihrer Nasenspitze und von der Frage, ob sie den idealen nasofrontalen Winkel besaßen oder nicht.
Schönheit ist ein großes, unverdientes, nach einem sinnlosen Zufallsprinzip verteiltes Geschenk.
Ich spezialisierte mich deshalb darauf, die Aussichten von Menschen wie Thalia zu verbessern, mit jedem Schnitt meines Skalpells eine willkürliche Ungerechtigkeit aus dem Weg zu
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