Traumsammler: Roman (German Edition)
räumen, auf bescheidene Art Stellung gegen eine Welt zu beziehen, deren Ordnung ich abscheulich fand, eine Welt, in der ein Mädchen durch einen Hundebiss ihrer ganzen Zukunft beraubt, zu einer Ausgestoßenen, einem Objekt der Verachtung werden konnte.
Das rede ich mir jedenfalls ein. Ich nehme an, dass ich mich auch aus anderen Gründen für die plastische Chirurgie entschieden habe. Zum Beispiel wegen des Geldes, des Prestiges, des sozialen Status. Wenn ich Thalia zum einzigen Grund dafür erkläre, ist das vielleicht zu schön, um wahr zu sein, etwas zu einfach und zu naheliegend. Ich habe in Kabul manches gelernt, vor allem jedoch, dass das menschliche Verhalten chaotisch und unvorhersehbar ist und sich in kein festes Raster zwängen lässt. Trotzdem finde ich Trost in der Vorstellung eines roten Fadens oder eines Musters im Leben, das ebenso langsam Gestalt annimmt wie ein Foto in der Dunkelkammer, oder in der Vorstellung einer langsam sich entfaltenden Geschichte, die das Gute, das ich immer in mir zu sehen geglaubt habe, zu bestätigen scheint. Diese Geschichte hält mich am Leben.
Ich praktizierte die Hälfte der Zeit in Athen, hob Augenbrauen, dehnte Unterkiefer, korrigierte schiefe Nasen und straffte faltige Haut. Während der anderen Hälfte tat ich, was ich wirklich tun wollte, nämlich um die Welt fliegen, nach Mittelamerika, in die Sahelzone, nach Südasien oder in den Fernen Osten, um dort Kindern zu helfen, Hasenscharten und gespaltene Kiefer zu behandeln, Gesichtstumore und Gesichtsverletzungen. Die Arbeit in Athen war nicht halb so befriedigend, wurde aber so gut bezahlt, dass ich mir den Luxus leisten konnte, mir regelmäßig ein paar Wochen oder sogar Monate für meine freiwillige Arbeit freizunehmen.
Dann, Anfang 2002, wurde ich in meinem Büro von einer Bekannten angerufen. Sie hieß Amra Ademovic und war eine bosnische Krankenschwester. Wir waren uns vor einigen Jahren auf einer Konferenz in London begegnet und hatten über das Wochenende eine schöne, aber, wie wir einvernehmlich beschlossen, zu nichts weiter verpflichtende Affäre gehabt. Wir waren jedoch in Kontakt geblieben und hatten uns gelegentlich getroffen. Sie erzählte mir, dass sie jetzt in Kabul für eine Non-Profit-Organisation arbeitete, die einen Chirurgen für die Behandlung von Kindern suchte: Hasenscharten, Gesichtsverletzungen durch Schrapnelle oder Geschosse und dergleichen mehr. Ich sagte sofort zu. Ich wollte drei Monate bleiben. Ich flog im späten Frühling 2002 dorthin. Ich kehrte nie zurück.
* * *
Thalia holt mich vom Fährhafen ab. Sie trägt einen grünen Wollschal und einen dicken, roséfarbenen Mantel über Jeans und Cardiganpullover. Ihre in der Mitte gescheitelten Haare, inzwischen sehr lang, fallen locker auf ihre Schultern. Und diese weißen Haare sind es – nicht ihre entstellte untere Gesichtshälfte –, die mich stutzen lassen. Nicht, dass ich überrascht wäre, denn Thalia begann schon mit Mitte dreißig zu ergrauen und hatte gegen Ende vierzig schlohweiße Haare. Ich habe mich schließlich auch verändert. Da ist mein Bauchansatz, der größer wird, da ist der stetig zurückweichende Haaransatz, aber der Verfall des eigenen Körpers ist ein unmerklicher, schleichender Prozess, der uns selbst kaum auffällt. Der Anblick der weißhaarigen Thalia ist ein deutlicher Beweis für ihr stetes, unausweichliches Älterwerden – und auch für meines.
»Du wirst frieren«, sagt sie und strafft ihren Schal. Es ist ein später Vormittag im Januar, der Himmel grau und bewölkt. Das verschrumpelte Laub der Bäume raschelt im Wind.
»Wenn du wissen willst, was wahre Kälte ist, musst du mich in Kabul besuchen«, antworte ich und greife nach dem Koffer.
»Wie du willst, Herr Doktor. Mit dem Bus oder zu Fuß? Du hast die Wahl.«
»Laufen wir«, sage ich.
Wir gehen nach Norden, durch Tinos-Stadt. Kommen an den im inneren Hafen vertäuten Segelbooten und Yachten vorbei. An Kiosken, die Postkarten und T-Shirts verkaufen. Leute sitzen vor den Cafés an kleinen, runden Tischen und nippen an einem Kaffee, spielen Schach, lesen Zeitung. Kellner decken Tische zum Mittagessen mit Besteck ein. Noch ein oder zwei Stunden, dann wird der Duft von gebratenem Fisch aus den Küchen strömen.
Thalia erzählt begeistert von einer Reihe weißer Bungalows mit Blick auf Mykonos und die Ägäis, die Investoren südlich von Tinos-Stadt bauen. Sie werden vor allem von Touristen und den wohlhabenden Leuten bewohnt werden, die
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