Traumsammler: Roman (German Edition)
dem Glaskolben; der rauchgeschwärzte, geschwungene Kamin; das Foto von mir und Mamá – sie in ihrem feinen Kleid, ich im weißen Hemd – über dem Kaminsims im Wohnzimmer; und ganz oben auf dem hohen Regal Mamás Porzellanservice.
Und doch … Als ich meinen Koffer abstelle, spüre ich, dass da ein großes Loch klafft. Die Jahrzehnte, die meine Mutter mit Thalia verbracht hat, sind weite, dunkle Leerstellen für mich. Ich war weit weg. Habe nicht mit Thalia und Mamá an diesem Tisch gegessen, habe die Streitereien, die Phasen der Langeweile, das Lachen, die Krankheiten, die endlose Folge kleiner Rituale, aus denen ein Leben besteht, nicht miterlebt. Es verwirrt mich ein wenig, wieder im Haus meiner Kindheit zu sein; es ist so, als würde man das Ende eines Romans lesen, den man vor Jahren in eine Ecke geworfen hat.
»Vielleicht ein paar Eier?«, fragt Thalia, die sich schon eine Schürze umgebunden hat und Öl in eine Pfanne träufelt. Sie scheint in der Küche daheim zu sein, bewegt sich ganz selbstverständlich.
»Gern. Wo ist Mamá?«
»Sie schläft. Sie hatte eine unruhige Nacht.«
»Ich schaue kurz bei ihr rein.«
Thalia zieht einen Quirl aus der Schublade. »Wenn du sie weckst, geht das auf deine Rechnung, Doktor.«
Ich gehe auf Zehenspitzen nach oben. Das Schlafzimmer ist dunkel. Ein schmaler Lichtstrahl fällt durch die zugezogenen Vorhänge auf Mamás Bett. Krankheit liegt in der Luft. Nicht als Geruch, sondern als etwas fast Greifbares. Das kennt jeder Arzt – Krankheiten können wie Dampf in einem Raum hängen. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, um meine Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Auf der Kommode leuchtet ein rechteckiges Licht, das immer wieder die Farbe wechselt, ein digitaler Bilderrahmen, und er steht auf Thalias Seite des Bettes, meiner alten Seite. Ein Bild, das Reisfelder und Holzhäuser mit grauen Dachschindeln zeigt, geht in das eines überfüllten Basars mit gehäuteten, an Haken hängenden Ziegen über, dann sieht man einen dunkelhäutigen Mann, der an einem schlammigen Fluss sitzt und sich mit den Fingern die Zähne putzt.
Ich ziehe einen Stuhl heran und setze mich neben das Bett, und als ich Mamá betrachte, sinkt mir das Herz. Sie ist auf erschreckende Art geschrumpft. Schon jetzt. Der Pyjama mit Blumenmuster wirkt viel zu weit für ihre schmalen Schultern und die flache Brust. Ihr Mund steht offen, die Mundwinkel zeigen nach unten, als hätte sie einen schlechten Traum. Dieser Anblick stört mich nicht, aber im Schlaf ist ihr Gebiss verrutscht, und das sieht furchtbar aus. Ihre Augenlider zucken leicht. Ich sitze eine ganze Weile bei ihr, frage mich, was ich erwartet habe, und lausche dem Ticken der Wanduhr, dem leisen Klimpern des Bratenhebers unten in der Küche. Ich lasse meinen Blick über die banalen, von Mamás Leben zeugenden Details schweifen: Der Flachbildschirm an der Wand; der Computer in der Ecke; auf dem Nachttisch ein unfertiges Sudoku, die darauf liegende Brille; die Fernbedienung; die Phiole mit künstlichen Tränen; eine Tube Steroidsalbe; Gebisshaftcreme; ein Döschen mit Tabletten; auf dem Fußboden ein plüschiges, silbergraues Paar Hausschuhe. So etwas hätte sie vorher nie getragen. Daneben eine offene Windelpackung. Ich kann all dies mit meiner Mutter nicht in Verbindung bringen. Ich sträube mich dagegen. Diese Dinge scheinen einer Fremden zu gehören. Einer trägen, harmlosen Person, der man niemals böse sein könnte.
Auf der anderen Seite des Bettes wechseln die Bilder im digitalen Rahmen. Ich betrachte sie eine Weile. Dann fällt der Groschen. Ich kenne die Fotos. Ich habe sie aufgenommen. Damals, während … Ja, während meiner Wanderjahre, könnte man sagen. Ich habe für Thalia immer extra Abzüge machen lassen. Und sie hat die Fotos aufbewahrt. All die Jahre. Thalia. Ich werde von einer Zuneigung erfüllt, süß und schwer wie Honig. Sie ist immer meine wahre Schwester gewesen, mein wahrer Manaar.
Sie ruft nach mir.
Ich stehe leise auf. Als ich das Schlafzimmer verlassen will, fällt mir etwas ins Auge. Ein gerahmtes, unter der Uhr hängendes Bild. Weil es zu dunkel ist, klappe ich das Handy auf und erkenne im silbrigen Licht, dass es sich um einen Pressebericht über die Non-Profit-Organisation handelt, für die ich in Kabul arbeite. Ich kann mich an das Interview erinnern. Der Journalist war ein netter, leicht stotternder Amerikaner mit koreanischen Wurzeln. Wir hatten uns einen Teller quabuli geteilt, brauner Reis, Rosinen, Lamm.
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