Traumsammler: Roman (German Edition)
seit den frühen 90er Jahren den Sommer auf Tinos verbringen. Sie erzählt, dass die Bungalows mit Fitnessraum und Swimmingpool ausgestattet werden.
Seit Jahren schreibt sie mir E-Mails und hält mich über die Veränderungen von Tinos auf dem Laufenden. Die Strandhotels mit Satellitenschüsseln und Internetzugang, die Nachtclubs, Bars und Tavernen, die Restaurants und Geschäfte für die Touristen, die Taxis, die Busse, die Menschenmassen, die ausländischen Frauen, die oben ohne am Strand liegen. Die Bauern reiten nicht mehr auf Eseln, sondern fahren Pickup-Trucks, jedenfalls die, die geblieben sind. Die meisten sind längst verschwunden, aber manche kehren zurück, um ihren Ruhestand auf der Insel zu verbringen.
»Odie ist nicht besonders erfreut«, sagt Thalia und meint die Veränderungen. Sie hat mir auch hiervon berichtet – von dem Misstrauen der Einheimischen gegen die Neuankömmlinge und die Veränderungen, die sie bewirken.
»Dich scheint das ja nicht zu stören«, sage ich.
»Ich kann den Wandel sowieso nicht aufhalten«, antwortet sie und fügt hinzu: »Odie sagt: ›Passt ja, dass du das sagst, Thalia; du bist nicht hier geboren.‹« Sie muss laut und herzlich lachen. »Man sollte meinen, dass ich das nach vierundvierzig Jahren auf Tinos sagen darf. Aber weit gefehlt.«
Thalia hat sich auch verändert. Ich bemerke trotz des Wintermantels, dass sie mehr auf den Hüften hat und etwas rundlicher geworden ist – nicht auf ausladende, sondern auf erdende Art. Außerdem strahlt sie einen gutmütigen Trotz aus, lässt leise, spöttische Bemerkungen über Dinge fallen, die sie lächerlich findet. Ihre strahlenden Augen, dieses neue, herzliche Lachen und die geröteten Wangen – sie wirkt insgesamt wie eine Bauersfrau. Eine bodenständige Frau, deren robuste Freundlichkeit auf eine gewisse Unnachgiebigkeit und Autorität schließen lässt, die man besser nicht in Frage stellt.
»Wie läuft das Geschäft?«, frage ich. »Hast du noch zu tun?«
»Ab und zu«, sagt Thalia. »Du weißt ja, was derzeit los ist.« Wir schütteln beide den Kopf. Ich habe in Kabul die Nachrichten über immer neue Sparpakete verfolgt, auf CNN die maskierten jungen Griechen gesehen, die vor dem Parlamentsgebäude mit Steinen auf Polizisten warfen, die Schutzausrüstung trugen, Tränengasgranaten abfeuerten, Schlagstöcke schwangen.
Thalia führt keinen Betrieb im eigentlichen Sinn, sondern war sozusagen Handwerkerin, jedenfalls vor dem Beginn des digitalen Zeitalters. Sie ist zu ihren Kunden nach Hause gefahren, hat die kaputten Stromwandler von Fernsehgeräten gelötet, in alten Röhrenradios Kondensatoren ausgetauscht. Man rief sie, wenn ein Kühlschrankthermostat defekt war oder wenn alte Rohre leckten. Die Leute bezahlten, was sie konnten, und wenn sie kein Geld hatten, arbeitete Thalia umsonst. Ich brauche das Geld nicht , sagte sie. Es macht mir einfach Spaß. Ich finde es immer noch spannend, etwas auseinanderzubauen und herauszufinden, wie es funktioniert. Heute kümmert sie sich, wieder als Autodidaktin, um defekte Computer. Sie repariert die Geräte für ein Taschengeld, ändert IP-Adressen, kümmert sich um eingefrorene Anwendungen, um Upgrades und Bootfehler und bringt Rechner auf Vordermann, die nur noch im Schneckentempo arbeiten. Ich habe sie mehrmals verzweifelt aus Kabul angerufen, wenn mein IBM wieder einmal gestreikt hat.
Wir bleiben vor dem Haus meiner Mutter kurz auf dem Hof mit dem alten Olivenbaum stehen. Ich sehe die Anzeichen von Mamás kürzlicher Arbeitswut, die frisch gestrichenen Wände, den halbfertigen Taubenschlag und auf einem Holzklotz einen Hammer und eine offene Packung Nägel.
»Wie ist sie drauf?«, frage ich.
»Oh, bissig wie immer. Deshalb habe ich das da anbringen lassen.« Sie deutet auf eine Satellitenschüssel auf dem Dach. »Wir gucken ausländische Soaps. Die arabischen sind die besten – oder die schlimmsten. Je nachdem. Wir versuchen zu erraten, wie die Geschichten ausgehen. Dabei bleibt sie entspannt.« Sie tritt durch die Haustür. »Willkommen zu Hause. Ich mache dir etwas zu essen.«
* * *
Seltsam, wieder in diesem Haus zu sein. Ich entdecke manches Neue wie den grauen Ledersessel im Wohnzimmer oder das weiße Korbgeflechttischchen neben dem Fernseher. Alles andere scheint aber noch am alten Platz zu stehen: Der Küchentisch, auf dem jetzt eine Kunststoffdecke mit Birnen-Auberginen-Muster liegt; die Bambusstühle mit den geraden Lehnen; die alte Petroleumlampe mit
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