Traumsammler: Roman (German Edition)
Kinder.«
Abdullah trat einen Schritt vor, als wollte er etwas erwidern, aber da spürte er Onkel Nabis Hand auf seiner Schulter. Er führte ihn durch den Flur zurück und sagte: »Du wirst staunen, wenn du die Basare siehst. So etwas habt ihr beiden bestimmt noch nicht erlebt.«
* * *
Frau Wahdati saß auf dem Rücksitz neben ihnen. Die Luft war von ihrem Parfüm und einem süßlich-würzigen Duft erfüllt, der Abdullah fremd war. Sie bombardierte seine Schwester und ihn während der Fahrt mit Fragen: Hatten sie Freunde? Gingen sie zur Schule? Sie erkundigte sich nach ihren häuslichen Pflichten, ihren Nachbarn, den Spielen, die sie spielten. Ihre rechte Gesichtshälfte schimmerte im Sonnenlicht. Abdullah sah den Flaum auf ihrer Wange und die blasse Haut unterhalb des Kinns, wo das Make-up endete.
»Ich habe einen Hund«, sagte Pari.
»Tatsächlich?«
»Er ist ein echtes Unikum«, sagte Onkel Nabi, der am Steuer saß.
»Er heißt Shuja. Er weiß, wann ich traurig bin.«
»Ja, so sind Hunde«, sagte Frau Wahdati. »Sie kriegen mehr mit als so mancher Mensch, den ich kenne.«
Sie fuhren an drei Schulmädchen vorbei, die über den Bürgersteig sprangen. Sie trugen schwarze Uniformen mit weißen, unter dem Kinn zugebundenen Kopftüchern.
»Kabul ist nicht übel, auch wenn ich es vorhin kritisiert habe.« Frau Wahdati spielte versonnen mit ihrer Halskette. Sie sah aus dem Fenster, und ihre Miene trübte sich ein. »Am schönsten ist es gegen Ende des Frühlings, nach dem Regen. Dann ist die Luft so sauber. Dann spürt man die Kraft des Sommers zum ersten Mal. Dann scheint die Sonne auf diese ganz besondere Art auf die Berge.« Sie lächelte zaghaft. »Wie schön, dass wir ein Kind in unserem Haus haben werden. Zur Abwechslung ein wenig Lärm. Ein wenig Leben.«
Abdullah musterte sie und erahnte unter dem Make-up, dem Parfüm und dem Heischen um Mitgefühl etwas Verstörendes, tief Gebrochenes in dieser Frau. Er dachte unwillkürlich an den Rauch von Parwanas Kochfeuer, an das Küchenregal mit dem Durcheinander der Gläser, an die bunt zusammengewürfelten Teller und schmutzigen Töpfe. Er vermisste die Matratze, die er sich mit Pari teilte, obwohl sie dreckig war und die Spiralfedern den Stoff zu durchbohren drohten. Er vermisste plötzlich sehr vieles. Er hatte noch nie so schreckliches Heimweh gehabt.
Frau Wahdati sank seufzend auf dem Rücksitz zurück und umklammerte ihre Handtasche wie eine Schwangere ihren dicken Bauch.
Onkel Nabi fuhr auf einen Bürgersteig, auf dem es von Menschen nur so wimmelte. Der Basar befand sich auf der anderen Straßenseite neben einer Moschee mit turmhohen Minaretten, und er bestand aus einem Labyrinth von Gassen, manche überdacht, andere nicht. Sie liefen an Ständen vorbei, die Ledermäntel, Ringe mit bunten Juwelen und Steinen sowie Gewürze aller Art feilboten. Frau Wahdati ging mit den Kindern voran, Onkel Nabi hinterher.
Hier, im Freien, trug Frau Wahdati eine dunkle Brille, die ihrem Gesicht etwas sonderbar Katzenhaftes verlieh.
Überall ertönten die Rufe der Feilscher. An fast jedem Stand plärrte Musik. Sie kamen an Läden mit offenen Fronten vorbei, die Bücher, Radios, Lampen und silberfarbene Kochtöpfe verkauften. Abdullah sah zwei Soldaten mit staubigen Stiefeln und dunkelbraunen Mänteln, die sich eine Zigarette teilten und die Leute gelangweilt, ja teilnahmslos betrachteten.
Sie blieben vor einem Schuhstand stehen. Frau Wahdati betrachtete die auf Schachteln aufgereihten Schuhe. Nabi, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlenderte zum nächsten Stand und sah sich dort ein paar alte Münzen an.
»Wie gefallen dir diese?«, fragte Frau Wahdati und hielt Pari ein nagelneues Paar gelber Schuhe hin.
»Sie sind wunderschön«, antwortete Pari und blickte die Schuhe ungläubig an.
»Probier sie an.«
Frau Wahdati half Pari beim Anziehen der Schuhe und schloss Riemen und Schnalle. Über die Brille hinweg warf sie einen Blick auf Abdullah. »Du könntest auch ein neues Paar gebrauchen. Unglaublich, dass du den ganzen, weiten Weg von eurem Dorf in diesen Sandalen zurückgelegt hast.«
Abdullah schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Weiter hinten in der Gasse hockte ein alter, beinloser Bettler mit zerzaustem Bart.
»Sieh nur, Abollah!« Pari hob erst einen Fuß, dann den anderen. Sie tat ein paar Schritte und hüpfte auf und ab. Frau Wahdati rief Onkel Nabi herbei und bat ihn, mit Pari durch die Gasse zu gehen, damit sie ausprobieren
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