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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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konnte, ob die Schuhe passten. Onkel Nabi nahm Pari bei der Hand und ging mit ihr davon.
    Frau Wahdati musterte Abdullah.
    »Du hältst mich für einen schlechten Menschen«, sagte sie. »Wegen meiner Worte von vorhin.«
    Abdullah sah, wie Pari und Nabi an dem alten Bettler vorbeigingen. Der Alte sprach Pari an, und diese sah zu Onkel Nabi auf und sagte etwas, und Onkel Nabi warf dem Alten eine Münze hin.
    Abdullah begann, lautlos zu weinen.
    »Oh, mein süßer Kleiner«, sagte Frau Wahdati hilflos. »Du armer Schatz.« Sie holte ein Taschentuch aus der Handtasche und bot es ihm an.
    Abdullah schob es weg. »Bitte tun Sie das nicht«, sagte er mit brüchiger Stimme.
    Sie hockte sich neben ihn, schob die Brille in ihr Haar. Auch sie hatte feuchte Augen, und als sie die Tränen mit dem Tuch abtupfte, färbte schwarze Schminke darauf ab. »Ich kann es dir nicht verübeln, wenn du mich hasst. Das ist dein gutes Recht. Aber – und ich erwarte nicht, dass du das verstehst, jedenfalls jetzt noch nicht – es geschieht alles zu ihrem Besten, wirklich, Abdullah, glaub mir. Eines Tages wirst du das verstehen.«
    Abdullah warf den Kopf in den Nacken und heulte, und da kam Pari zu ihm zurückgehüpft, mit dankbarem Blick und glückstrahlendem Gesicht.
    * * *
    In jenem Winter holte Abdullahs Vater eines Morgens seine Axt und fällte die riesige Eiche. Baitullah, Mullah Shekibs Sohn, und einige andere Männer halfen ihm dabei. Niemand versuchte, sie daran zu hindern. Abdullah sah den Männern gemeinsam mit den anderen Jungen zu. Zuerst nahm sein Vater die Schaukel ab. Er kletterte auf den Baum und kappte die Seile mit dem Messer. Danach hieben er und die übrigen Männer unermüdlich mit der Axt auf den Stamm ein, bis der Baum am späten Nachmittag mit einem lauten Knarren fiel. Abdullah erfuhr von seinem Vater, dass sie Feuerholz für den Winter brauchten. Aber sein Vater hatte die Axt mit großer Wucht, fest zusammengebissenen Zähnen und so angestrengtem Gesichtsausdruck geschwungen, als hätte er den Anblick des Baumes nicht länger ertragen.
    Und nun hackten die Männer mit von der Kälte geröteten Nasen und Wangen unter dem steingrauen Himmel auf den gefällten Stamm ein, und die Klingen fuhren mit hohlem Hall ins Holz. Abdullah brach weiter oben Zweige von den Ästen. Vor zwei Tagen war der erste Schnee gefallen. Nur wenig, und doch ein Vorgeschmack auf das, was ihnen bevorstand. Der Winter würde bald über Shadbagh hereinbrechen, mit Eiszapfen, wochenlangen Schneeverwehungen und Winden, die die Haut auf dem Handrücken innerhalb einer Minute aufspringen ließen. Bislang war die hellbraune Erde zwischen dem Dorf und den steilen Hügelhängen nur stellenweise von Weiß bedeckt.
    Abdullah sammelte einen Arm voll dünner Äste und trug sie zu dem stetig wachsenden Haufen, der für das ganze Dorf gedacht war. Er trug seine neuen Winterstiefel, Fäustlinge und einen neuen Wintermantel. Dieser war gebraucht, aber abgesehen von dem kaputten Reißverschluss, den sein Vater repariert hatte, war er wie neu – dunkelblau und gesteppt und innen mit orangefarbenem Pelz gefüttert. Er hatte vier tiefe Taschen mit Druckknöpfen und eine gesteppte Kapuze, die sich eng um Abdullahs Gesicht schloss, wenn er an der Kordel zog. Er setzte sie ab und blies einen Schwall dunstigen Atems aus.
    Die Sonne versank hinter dem Horizont. Abdullah konnte die alte Windmühle ausmachen, die grau und öde über den Lehmmauern des Dorfes aufragte. Die Flügel bewegten sich ächzend, wenn sie von einem aus den Hügeln kommenden Windstoß erfasst wurden. Während des Sommers diente die Windmühle den Blaureihern als Nistplatz, aber während des Winters waren die Reiher fort, und die Krähen traten an ihre Stelle. Abdullah erwachte jeden Morgen von ihrem Geschrei und heiseren Krächzen.
    Da fiel ihm etwas ins Auge, das rechts von ihm auf der Erde lag. Er ging hin und sank auf ein Knie.
    Eine Feder. Klein. Gelb.
    Er zog einen Fäustling aus und hob sie auf.
    An diesem Abend waren sie zu einer Feier eingeladen, er, sein Vater und sein kleiner Halbbruder Iqbal. Baitullah war Vater eines Jungen geworden. Ein motreb würde für die Männer singen, und irgendjemand würde ihn mit einem Tamburin begleiten. Es würde Tee geben, warmes, frisch gebackenes Brot und shorwa -Suppe mit Kartoffeln. Danach würde Mullah Shekib einen Finger in eine Schale mit gesüßtem Wasser halten und den Säugling daran nuckeln lassen. Er würde seinen glänzenden, schwarzen Stein

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