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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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und sein zweischneidiges Rasiermesser hervorholen und den Unterleib des Jungen entblößen. Ein ganz gewöhnliches Ritual. Das Leben in Shadbagh ging weiter.
    Abdullah drehte die Feder hin und her.
    Wehe, du weinst , hatte sein Vater gesagt. Ja keine Tränen. Das dulde ich nicht.
    Er hatte nicht geweint. Niemand im Dorf fragte nach Pari. Niemand erwähnte auch nur ihren Namen. Es verblüffte Abdullah, wie spurlos sie aus ihrem Leben verschwunden war.
    Der Einzige, der Abdullahs Trauer zu teilen schien, war Shuja. Der Hund stand täglich vor ihrer Tür. Parwana bewarf ihn mit Steinen. Sein Vater ging mit dem Stock auf ihn los. Doch er kam immer wieder. Er winselte die ganze Nacht, und morgens lag er vor der Tür, das Kinn auf den Vorderpfoten, und blinzelte jene, die ihn vertreiben wollten, mit traurigen, gutmütigen Augen an. So ging es wochenlang, bis Abdullah schließlich sah, wie er mit hängendem Kopf Richtung Hügel lief. Seither hatte man ihn in Shadbagh nicht mehr gesehen.
    Abdullah steckte die Feder ein und machte sich auf den Weg zur Windmühle.
    Manchmal, wenn sein Vater sich unbeobachtet wähnte, trübte sich seine Miene ein, und verwirrend viele Gefühlsregungen zogen darüber hinweg. Abdullah kam es so vor, als sei sein Vater geschrumpft, als hätte man ihm etwas Grundlegendes geraubt. Er schlurfte träge durch das Haus oder saß vor dem neuen, schmiedeeisernen Ofen, den kleinen Iqbal auf dem Schoß, und starrte blind in die Flammen. Er sprach so langsam und nuschelnd, als würde auf jedem seiner Worte ein schweres Gewicht lasten, auch das kannte Abdullah nicht von ihm. Sein Vater versank immer wieder in endlos langem Schweigen, und dabei wirkte er tief verschlossen. Und was seine Geschichten betraf, so hatte er, seit er mit Abdullah aus Kabul zurückgekehrt war, keine einzige mehr erzählt. Vielleicht, dachte Abdullah, hatte sein Vater den Wahdatis auch seine Muse verkauft.
    Verschwunden.
    In Luft aufgelöst.
    Nichts mehr übrig.
    Keine Erwähnung.
    Nur diese Worte Parwanas: Die Wahl musste auf sie fallen. Es tut mir leid, Abdullah. Aber nur sie kam in Frage.
    Ein Finger abgeschnitten, um die Hand zu retten.
    Er ging zur Rückseite der verfallenden Windmühle und sank vor dem Steinsockel auf die Knie, zog die Fäustlinge aus und begann zu graben. Er dachte an Paris dichte Augenbrauen, ihre breite, rundliche Stirn, ihr Zahnlückenlächeln. Er hatte noch ihr perlendes Lachen im Ohr, das früher durch das Haus gehallt war. Er dachte an den Tumult nach ihrer Rückkehr vom Basar. Pari war panisch geworden. Hatte gekreischt. Onkel Nabi hatte sie rasch weggebracht. Abdullah grub, bis seine Finger auf Metall stießen. Er zwängte seine Hände darunter und hob die Teedose aus dem Loch. Er wischte den eiskalten Dreck vom Deckel.
    In letzter Zeit musste er oft an die Geschichte denken, die sein Vater ihnen vor dem Aufbruch nach Kabul erzählt hatte, das Märchen von Baba Ayub, dem alten Bauern, und dem Dämon. Wenn Abdullah an einer Stelle stand, wo Pari früher einmal gestanden hatte, dann stieg ihre Abwesenheit wie ein Duft aus der Erde unter seinen Füßen auf, dann bekam er wackelige Beine, dann schien sein Herz zu zerreißen, dann sehnte er sich nach einem tiefen Schluck jenes Trankes, den der Dämon Baba Ayub geschenkt hatte. Auch er hätte am liebsten alles vergessen.
    Doch es gab kein Vergessen. Egal wo Abdullah sich aufhielt, immer hing Pari am Rand seines Blickfelds. Sie war wie der Staub, der sich in seinem Hemd festsetzte. Sie war in dem Schweigen, das zu Hause immer öfter eintrat, ein Schweigen, das zwischen den Wörtern aufquoll, einmal kalt und leer und dann wieder schwer von allem, was nicht ausgesprochen wurde, ein Schweigen wie eine dicke, graue Regenwolke, die sich nie entlud. In manchen Nächten träumte Abdullah, wieder in der Wüste zu sein, ganz allein, umringt von den Bergen, und er sah in der Ferne ein Licht, das unablässig aufschien und erlosch, aufschien und erlosch. Wie eine Botschaft.
    Er öffnete die Teedose. Da waren sie, Paris Federn, es fehlte keine einzige. Federn von Hähnen, Enten, Tauben und auch die des Pfaus. Er legte die gelbe Feder in die Dose. Eines Tages, dachte er.
    Hoffte er.
    Seine Tage in Shadbagh waren genauso gezählt wie die von Shuja. Das wusste er jetzt. Hier hielt ihn nichts mehr. Dies war nicht mehr sein Zuhause. Er würde hier noch den Winter über bleiben, und bei Anbruch des Tauwetters, im Frühling, würde er eines Tages vor dem Morgengrauen aufstehen und

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