Traumsammler: Roman (German Edition)
zur Tür hinausgehen. Er würde eine Richtung wählen und aufbrechen. Er würde möglichst viel Abstand zwischen sich und Shadbagh bringen, so weit laufen, wie seine Füße ihn trugen. Und falls ihn eines Tages, während er ein weites, offenes Feld überquerte, Verzweiflung überkommen sollte, würde er einfach stehen bleiben und die Augen schließen und an die Falkenfeder denken, die Pari in der Wüste gefunden hatte. Er würde sich vorstellen, wie die Feder sich aus dem Gefieder des Vogels löste, hoch oben in den Wolken, eine halbe Meile über der Welt, wie sie in der Luft hin und her glitt, von den ungestümen Windböen meilenweit über Wüste und Berge geweht wurde, um dann ausgerechnet vor jenem Felsblock zu landen, wo seine Schwester sie entdeckt hatte. Und er, Abdullah, würde angesichts der Tatsache, dass dies möglich war, von Staunen und Hoffnung zugleich erfüllt sein. Und er würde sich wider besseres Wissen ein Herz nehmen und die Augen aufmachen und weitergehen.
Drei
Frühling 1949
Parwana kann es schon riechen, bevor sie die Decke wegzieht. Masoomas Hintern ist über und über beschmiert, ebenso ihre Oberschenkel und Laken, Matratze und Decke. Masooma wirft ihr über die Schulter einen flehentlichen, um Verzeihung bittenden Blick zu, einen beschämten Blick – sie schämt sich immer noch, nach all der Zeit, nach all den Jahren.
»Vergib mir«, flüstert Masooma.
Parwana würde am liebsten schreien, ringt sich jedoch ein schwaches Lächeln ab. In solchen Momenten muss sie sich mit aller Kraft zusammenreißen, damit sie sich erinnert, die unbestreitbare Wahrheit nicht aus den Augen verliert: Diese Schweinerei ist ihr Verschulden, und jede Mühe, die sie auf sich nehmen muss, ist nur gerecht. Ja, sie hat dies verdient. Sie lässt ihren Blick über die schmutzige Bettwäsche gleiten und seufzt, denkt mit Grauen an die Arbeit, die ihr jetzt bevorsteht. »Ich mache dich sauber«, sagt sie.
Masooma beginnt, lautlos zu weinen. Sie verzieht keine Miene, aber die Tränen fließen, strömen ihr über die Wangen.
Parwana entfacht draußen, in der Kälte des frühen Morgens, ein Feuer in der Kochstelle. Sobald es richtig brennt, füllt sie am Dorfbrunnen einen Eimer mit Wasser, das sie dann zum Kochen aufsetzt. Sie hält ihre Hände über die Flammen. Von hier kann sie die Windmühle und die Dorfmoschee sehen, in der Mullah Shekib ihr und Masooma Lesen beigebracht hat, und sie sieht das vor einem sanften Hügel stehende Haus des Mullahs. Später, bei Sonnenaufgang, wird sich das Dach dieses Hauses, auf dem die Frau des Mullahs ihre Tomaten zum Trocknen ausgebreitet hat, als rotes Quadrat vor dem Staub abzeichnen. Parwana sieht zu den morgendlichen Sternen auf, die ihr fahl und verblassend zuzwinkern. Sie reißt sich zusammen.
Wieder im Haus, dreht sie Masooma auf den Bauch. Sie tränkt einen Waschlappen im warmen Wasser und schrubbt Masoomas Pobacken ab, wischt den Dreck vom Rücken und von den wabbeligen Beinen.
»Warum warmes Wasser, Parwana?«, murmelt Masooma ins Kissen. »Wozu die Mühe? Das muss nicht sein. Ich kann den Unterschied sowieso nicht spüren.«
»Du vielleicht nicht. Aber ich«, sagt Parwana und verzieht das Gesicht, als ihr der Gestank in die Nase steigt. »Und nun sei still und lass mich meine Arbeit machen.«
Danach nimmt Parwanas Tag den gleichen Verlauf wie seit dem Tod ihrer Eltern vor vier Jahren. Sie füttert die Hühner. Sie hackt Holz und schleppt Wasser vom Brunnen herbei. Sie knetet Teig und backt das Brot im Tandoor vor ihrem Lehmziegelhaus. Sie fegt einmal durch. Nachmittags hockt sie neben den anderen Frauen des Dorfes am Fluss und wäscht auf den Steinen ihre Wäsche. Und weil es ein Freitag ist, besucht sie danach das Grab ihrer Eltern auf dem Friedhof und spricht für beide ein kurzes Gebet. Und den ganzen Tag kümmert sie sich zwischen ihren Pflichten um Masooma, dreht sie einmal auf diese, dann auf die andere Seite, schiebt das Kissen unter die eine, dann unter die andere Pobacke.
An diesem Tag sieht sie Saboor zwei Mal.
Sie sieht ihn vor seinem kleinen Haus sitzen und das Feuer in der Kochstelle schüren, die Augen wegen des Rauches zusammengekniffen, seinen Sohn, Abdullah, an seiner Seite. Später beobachtet sie, wie Saboor mit anderen Männern redet, die inzwischen auch eine Familie haben, früher aber Dorfjungen waren, mit denen Saboor gestritten hat, mit denen er Drachen steigen ließ, Hunde jagte, Verstecken spielte. Auf Saboors Schultern scheint eine
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