Traumsammler: Roman (German Edition)
Buchhändler in eine andere Richtung geschaut hatte, und das Notizbuch unter ihren Pullover geschoben.
Doch während des halben Jahres, das seither vergangen war, hatte sie nicht den Mut gefunden, Saboor das Notizbuch zu geben. Sie fürchtete sich davor, dass er sie auslachte. Er würde vielleicht auch ahnen, dass sie es gestohlen hatte, und es deshalb nicht annehmen. Abends, im Bett, umklammerte sie das Notizbuch unter der Decke und strich behutsam über das Prägemuster des Einbands. Morgen , schwor sie sich jeden Abend. Morgen gebe ich es ihm.
Am späteren Abend, nach dem iftar -Mahl, rannten die Kinder zum Spielen nach draußen. Parwana, Masooma und Saboor saßen abwechselnd auf der Schaukel, die Saboors Vater an einem dicken Ast der riesigen Eiche befestigt hatte. Doch als Parwana an der Reihe war, vergaß Saboor, ihr Anschwung zu geben, weil er schon wieder eine Geschichte erzählte. Sie handelte von der riesigen Eiche, die seinen Worten zufolge magische Kräfte hatte. Wenn man einen Wunsch habe, sagte er, müsse man vor dem Baum knien und ihm den Wunsch zuflüstern, und wenn der Baum zur Erfüllung des Wunsches bereit sei, lasse er genau zehn Blätter auf den Kopf des Bittstellers fallen.
Als die Schaukel fast zum Stillstand gekommen war, drehte sich Parwana nach Saboor um, weil sie ihn bitten wollte, ihr noch einmal Anschwung zu geben, aber die Wörter blieben ihr im Hals stecken. Saboor und Masooma blickten einander lächelnd an, und Parwana sah, dass Saboor das Notizbuch in Händen hielt. Ihr Notizbuch.
Ich habe es zu Hause gefunden , sagte Masooma später. Hat es dir gehört? Ich werde dir irgendetwas dafür geben, das verspreche ich. Es macht dir doch nichts aus, oder? Ich dachte nur, dass es wie gemacht für ihn ist. Für seine Geschichten. Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen? Hast du das gesehen, Parwana?
Parwana sagte, es mache ihr nichts aus, aber sie zerbrach innerlich. Sie stellte sich immer wieder vor, wie ihre Schwester und Saboor einander angelächelt hatten. Für die beiden war sie so unsichtbar gewesen, dass sie ebensogut einer der Luftgeister aus Saboors Geschichten hätte sein können. Das versetzte ihr einen tiefen Stich. Als sie abends auf ihrem Lager lag, weinte sie leise.
Parwana durchschaute schon mit elf das Verhalten der Jungen gegenüber Mädchen, die sie heimlich verehrten. Sie bemerkte es vor allem auf dem Heimweg von der Schule. Die Schule war genau genommen nur das Hinterzimmer der Dorfmoschee, in dem Mullah Shekib ihnen außer der Koran-Rezitation auch Lesen und Schreiben beibrachte und sie Gedichte auswendig lernen ließ. Shadbagh könne sich glücklich schätzen, einen so weisen Mann als malik zu haben, sagte ihr Vater. Wenn die beiden Mädchen nach dem Unterricht nach Hause liefen, kamen sie oft an einer Gruppe von Jungen vorbei, die auf einer Mauer saßen. Wenn die Mädchen vorbeigingen, hänselten die Jungen sie und warfen manchmal mit Kieselsteinen nach ihnen. Parwana gab ihnen Kontra und bewarf sie mit größeren Steinen, aber Masooma zog sie jedes Mal weg und befahl ihr, sich nicht provozieren zu lassen. Doch sie verstand nicht, denn Parwana ärgerte sich nicht darüber, dass sie mit Kieselsteinen beworfen wurde, sondern darüber, dass die Jungen immer nur Masooma bewarfen. Parwana wusste, dass sie sich aufspielten, und je mehr sie das taten, desto größer war ihr Interesse. Sie bemerkte, wie die Blicke über sie hinwegglitten und an Masooma hängen blieben, sehnsuchtsvolle, bewundernde Blicke. Sie wusste, dass die Jungen furchtbare Angst vor Masooma hatten, eine Angst, die sie hinter gemeinen Witzen und lüsternem Grinsen verbargen.
Eines Tages warf ein Junge keinen Kiesel, sondern einen Stein nach ihnen. Er kullerte vor die Füße der Schwestern. Als Masooma ihn aufhob, begannen die Jungen zu kichern und einander mit dem Ellbogen anzustoßen. Sie hatten einen Zettel mit einem Gummiband an dem Stein befestigt. Sobald die Schwestern weit genug weg waren, entfaltete Masooma den Zettel. Zusammen lasen sie die Nachricht.
Seitdem ich dein Gesicht erblickt habe,
Ist die ganze Welt nur noch Trug und Schein.
Der Garten weiß nicht mehr, was Blatt und Blüte ist.
Die verwirrten Vögel können Futter und Falle nicht mehr voneinander unterscheiden.
Ein Gedicht Rumis aus dem Unterricht Mullah Shekibs.
Sie werden immer gebildeter , sagte Masooma kichernd.
Ein Junge hatte unter das Gedicht geschrieben: Ich möchte dich heiraten. Und wiederum darunter: Einer meiner
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