Traumsammler: Roman (German Edition)
für sie. Sie wimmerte leise, wenn Parwana in ihre wunde, geschwollene Brust biss und so ungestüm saugte, als wollte sie die Milch bis auf den allerletzten Tropfen aus dem Leib ihrer Mutter holen. Aber das Stillen half auch nicht, denn Parwana strampelte und schrie sogar mit vollem Bauch und zeigte sich unbeeindruckt vom Flehen der Mutter.
Masooma sah von ihrer Zimmerecke aus so nachdenklich und hilflos zu, als würde sie ihre Mutter, die eine solche Bürde zu tragen hatte, bemitleiden.
Nabi war ganz anders , sagte ihre Mutter eines Tages zu ihrem Vater.
Kein Baby ist wie das andere.
Sie bringt mich noch um, diese Kleine.
Das geht vorüber , sagte er. Wie schlechtes Wetter.
Und es ging tatsächlich vorüber. Vielleicht waren es Koliken oder andere Beschwerden gewesen. Doch es war zu spät. Parwana hatte ihre Spuren hinterlassen.
Eines Nachmittags im Spätsommer, die Zwillinge waren zehn Monate alt, versammelten sich die Dorfbewohner Shadbaghs nach einer Hochzeit. Die Frauen schichteten mit Safran bestreute Reiswaffeln in fiebriger Hast auf Platten zu Pyramiden. Sie schnitten Brot, kratzten die Reiskruste von Topfböden und ließen Teller herumgehen, auf denen gedörrte Auberginen mit Joghurt und getrockneter Minze lagen. Nabi spielte draußen mit anderen Jungen. Die Mutter der Mädchen saß mit den Nachbarn auf einem Teppich unter der riesigen Dorfeiche. Sie warf hin und wieder einen Blick auf ihre Töchter, die nebeneinander im Schatten schlummerten.
Als nach dem Essen Tee getrunken wurde, erwachten die Babys, und eine Frau nahm Masooma auf den Arm. Sie wurde fröhlich herumgereicht, von Cousine zu Tante zu Onkel, auf diesem Knie balanciert, auf jenem Schoß gewiegt. Viele kitzelten ihr weiches Bäuchlein. Viele stupsten sie zart an der Nase. Die Leute schüttelten sich vor Lachen, als sie verspielt nach Mullah Shekibs Bart griff. Man bestaunte ihr heiteres, unkompliziertes Wesen. Man hob sie hoch und bewunderte ihre rosigen Wangen, ihre saphirblauen Augen und den anmutigen Schwung ihrer Stirn, denn all das verhieß, dass sie einmal zu einer wahren Schönheit heranwachsen würde.
Parwana saß so lange auf dem Schoß ihrer Mutter. Während Masooma ihren großen Auftritt hatte, sah sie so stumm und verwirrt zu, als wäre sie in diesem entzückten Publikum die Einzige, die nicht begriff, worum hier so viel Wirbel gemacht wurde. Ihre Mutter sah gelegentlich auf sie hinab und drückte sanft und fast entschuldigend eines ihrer Füßchen. Als jemand sagte, dass Masooma zwei neue Zähnchen bekomme, erwiderte sie zaghaft, Parwana habe schon drei. Aber niemand nahm Notiz davon.
Die Mädchen waren neun, da besuchten sie mit ihren Eltern eines frühen Abends das Haus von Saboors Familie, um nach dem Ramadan bei einem iftar das Fasten zu brechen. Die Erwachsenen hatten sich auf Kissen auf dem Boden verteilt, und alle unterhielten sich laut. Nicht nur Tee und gute Wünsche machten die Runde, sondern auch Klatsch und Tratsch. Greise ließen Gebetsketten durch ihre Finger gleiten. Und Parwana saß still und glücklich da, weil sie die gleiche Luft wie Saboor atmen durfte, in der Nähe seiner dunklen, eulenartigen Augen war. Im Laufe des Abends beobachtete sie ihn immer wieder verstohlen. Sie sah, wie er in einen Zuckerwürfel biss, über die glatte Fläche seiner Stirn wischte oder herzhaft über die Worte eines älteren Onkels lachte. Wenn er sie dabei ertappte, was ein oder zwei Mal geschah, sah sie rasch weg. Es war ihr so peinlich, dass ihre Knie zitterten, und sie brachte kaum noch ein Wort hervor, so trocken war ihr Mund auf einmal.
Parwana dachte in diesen Situationen an das Notizbuch, das sie zu Hause unter einem Stapel ihrer Kleider versteckt hatte. Saboor erzählte ständig Geschichten von Feen und Dschinns, Dämonen und Ungeheuern. Die Dorfkinder umringten ihn und lauschten, während er Märchen für sie erfand. Und vor einem halben Jahr hatte Parwana zufällig gehört, wie Saboor zu Nabi gesagt hatte, dass er seine Geschichten hoffentlich irgendwann aufschreiben könne. Bald darauf war Parwana mit ihrer Mutter auf einem Basar in einer fremden Stadt gewesen, und dort, an einem Stand für gebrauchte Bücher, hatte sie ein schönes Notizbuch entdeckt, mit weißen, linierten Seiten und einem dicken, dunkelbraunen, an den Rändern mit Prägemuster verzierten Einband. Sie hatte es noch in der Hand, als ihr bewusst wurde, dass ihre Mutter sich das Buch nicht leisten konnte. Also hatte Parwana gewartet, bis der
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