Traumsammler: Roman (German Edition)
schwere Last zu liegen, die Last einer Tragödie, denn seine Frau ist gestorben, und er hat zwei Kinder, eines davon noch ganz klein. Seine Stimme klingt neuerdings müde, und er ist kaum zu verstehen. Er läuft wie verloren im Dorf herum, eine abgehärmte, geschrumpfte Version seines früheren Selbst.
Parwana beobachtet ihn aus der Ferne, erfüllt von einer verzehrenden Sehnsucht. Wenn sie an Saboor vorbeigeht, versucht sie, den Blick abzuwenden. Und wenn ihre Blicke einander zufällig begegnen, grüßt er sie mit einem Nicken, und ihr schießt das Blut ins Gesicht.
Als Parwana sich abends zum Schlafen niederlegt, ist sie kaum noch imstande, ihre Arme zu heben. Ihr Kopf schwirrt vor Erschöpfung. Sie liegt auf ihrem Lager und wartet auf den Schlaf.
Dann, im Dunkeln:
»Parwana?«
»Ja.«
»Weißt du noch, wie wir gemeinsam Fahrrad gefahren sind?«
»Hmm.«
»Wir sind gerast! Den Hügel hinab. Und die Hunde haben uns verfolgt.«
»Ja, das weiß ich noch.«
»Wir haben beide gekreischt. Und als wir gegen den Stein gefahren sind …« Parwana kann spüren, dass ihre Schwester im Dunkeln lächelt. »Mutter war so wütend. Und Nabi auch. Wir haben sein Fahrrad kaputtgemacht.«
Parwana schließt die Augen.
»Parwana?«
»Ja.«
»Schläfst du heute bei mir?«
Parwana strampelt ihre Decke weg, geht zu Masooma und schlüpft neben ihr ins Bett. Masooma bettet eine Wange auf Parwanas Schulter, schiebt einen Arm über die Brust ihrer Schwester.
Masooma flüstert: »Du hast etwas Besseres verdient als mich.«
»Fang nicht wieder damit an«, erwidert Parwana. Sie streicht über Masoomas Haar, langsam und geduldig, denn so hat es ihre Schwester gern.
Sie plaudern noch eine Weile mit gedämpfter Stimme über kleine, unwichtige Dinge, wärmen sich gegenseitig mit ihrem Atem. Dies sind vergleichsweise glückliche Minuten in Parwanas Leben, denn es erinnert sie an die Zeit, als sie kleine Mädchen waren und sich Nase an Nase unter der Decke zusammenkuschelten, leise kicherten, einander Geheimnisse und Tratsch zuflüsterten. Masooma schläft bald ein, sie schnarcht lautstark im Takt eines Traumes. Parwana starrt aus dem Fenster in den Himmel, schwarz wie Holzkohle. Gedankenfetzen gehen ihr im Kopf herum, und dann hat sie ein Bild vor Augen, das sie vor Jahren in einer alten Zeitschrift gesehen hat, das Bild zweier grimmig dreinschauender Siamesischer Zwillinge, die am Unterleib zusammengewachsen waren. Zwei Geschöpfe, für immer miteinander verbunden. Das im Rückenmark des einen produzierte Blut strömte durch die Adern des anderen, eine unauflösliche Verbindung. Parwana spürt, wie sich in ihr etwas zusammenkrampft, als würde sich eine riesige Faust um ihre Brust schließen. Sie holt Luft. Sie würde gern wieder an Saboor denken, aber ihre Gedanken wandern zu den im Dorf kursierenden Gerüchten – er sucht angeblich eine neue Frau. Sie verdrängt diesen Gedanken. Sie erstickt diesen albernen Gedanken im Keim.
* * *
Parwana kam als Überraschung.
Masooma war schon geboren und lag lautlos strampelnd in den Armen der Hebamme, da schrie ihre Mutter noch einmal auf, und ein zweiter Kopf kam zum Vorschein. Masoomas Geburt verlief problemlos. Sie sei, sagte die Hebamme später, wie von selbst auf die Welt gekommen. Parwanas Geburt zog sich in die Länge, war eine Qual für ihre Mutter und riskant für das Baby. Die Hebamme musste eingreifen, weil sich die Nabelschnur wie aus selbstmörderischer Furcht vor dem Verlassen des Mutterleibs um Parwanas Hals gelegt hatte. Während ihrer schlimmsten Momente, wenn sie in Selbsthass zu ertrinken droht, glaubt Parwana, dass die Nabelschnur sich damals zu Recht um ihren Hals geschlungen hat. Die Nabelschnur wusste vielleicht, wer der bessere Zwilling war.
Masooma trank und schlief wie nach Plan. Sie schrie nur, wenn sie hungrig war oder wenn die Windel gewechselt werden musste. Sie war verspielt, gutmütig und leicht zu erheitern, ein quietschendes und glucksendes kleines Bündel. Sie nuckelte gern an ihrer Rassel.
So ein braves Baby, sagten die Leute.
Parwana dagegen war eine Tyrannin. Sie strengte ihre Mutter sehr an. Ihr Vater, durch das Gezeter des Babys genervt, schnappte sich Nabi, den älteren Bruder der Zwillinge, und floh über Nacht in das Haus seines Bruders. Die Nächte waren für die Mutter der beiden Mädchen eine Tortur, denn es gab immer nur kurze, unruhige Verschnaufpausen. Jede Nacht ging sie mit Parwana im Arm im Haus auf und ab. Sie wiegte sie und sang
Weitere Kostenlose Bücher