Traumsammler: Roman (German Edition)
etwas Erstaunliches feststellen – alle haben die gleichen Linien. Und was bedeuten diese Linien? Nun, die Linien auf der linken Hand eines Muslims bilden die arabische Einundachtzig, die auf der rechten Hand die Achtzehn. Und was ergibt einundachtzig minus achtzehn? Dreiundsechzig. Das Alter, in dem unser Prophet gestorben ist, Friede sei mit ihm.«
Auf der Rückbank ertönte ein leises Lachen.
»Eines Tages kam ein Reisender in unser Dorf, und wie es guter Brauch ist, aß er bei Mullah Shekib zu Abend. Der Reisende hörte die Geschichte, und er dachte darüber nach, und dann sagte er: Aber, Mullah Sahib, bei allem Respekt, ich bin einmal einem Juden begegnet, und ich schwöre, dass seine Handflächen die gleichen Linien aufwiesen. Wie kann das sein? Und der Mullah antwortete: Dann war dieser Jude im Herzen ein Muslim.«
Ihr plötzliches Lachen verzauberte mich für den ganzen Tag. Es war – möge Gott mir diese Worte verzeihen –, als wäre es im Himmel erklungen, im Garten der Gerechten, wo, wie es im Buche heißt, die Flüsse ewig strömen, wo es für immerdar Früchte und kühlen Schatten gibt.
Sie müssen wissen, Mr Markos, dass es nicht nur ihre Schönheit war, die mich so fesselte, obwohl diese mehr als ausgereicht hätte. Ich war noch nie einer Frau wie Nila begegnet. Alles, was sie tat – wie sie sprach, wie sie ging, sich kleidete, lächelte –, war mir neu. Nila verstieß gegen alle Vorstellungen, wie sich eine Frau zu verhalten hatte, was Leute wie Zahid zutiefst missbilligten – und gewiss auch Saboor und alle anderen Männer aus meinem Dorf, ja sogar die Frauen. Was mich betraf, so steigerte dies nur ihre Rätselhaftigkeit und den Reiz, den sie auf mich ausübte.
Deshalb hatte ich ihr Lachen den ganzen Tag im Ohr, und nach Feierabend, als die anderen Arbeiter zum Tee kamen, musste ich ständig grinsen, blendete ihr raues Gelächter aus und vergegenwärtigte mir Nilas glockenhelles Lachen. Ich war stolz darauf, dass meine Geschichte ihr etwas Erleichterung verschafft hatte, denn sie war unglücklich in ihrer Ehe. Sie war eine außergewöhnliche Frau, und ich ging an dem Abend mit dem Gefühl zu Bett, möglicherweise auch nicht ganz gewöhnlich zu sein. So war ihre Wirkung auf mich.
* * *
Wir unterhielten uns bald täglich, Nila und ich, meist am späten Vormittag, wenn sie auf der Veranda einen Kaffee trank. Ich kam unter dem Vorwand angeschlendert, dieses und jenes erledigen zu müssen, und es dauerte nicht lange, dann stand ich auf eine Schaufel gelehnt oder mit einer Tasse grünem Tee in der Hand vor ihr und plauderte mit ihr. Ich hatte das Gefühl, von ihr auserwählt worden zu sein, denn ich war nicht der einzige Diener im Haus. Zahid, diese gewissenlose Kröte, habe ich schon erwähnt, und außerdem war da noch diese Hazara-Frau mit dem wuchtigen Kinn, die zweimal in der Woche kam, um die Wäsche zu machen. Aber Nila hielt sich an mich. Es schmeichelte mir, neben ihrem Mann der Einzige zu sein, der ihre Einsamkeit aufhellte. Sie redete die meiste Zeit, wenn wir so dastanden, und das kam mir sehr gelegen; ich war mehr als zufrieden damit, das Gefäß für ihre Geschichten zu sein. Sie erzählte mir zum Beispiel von einem Jagdausflug nach Dschalalabad, den sie gemeinsam mit ihrem Vater unternommen hatte, und wie sie noch Wochen später Albträume von den glasigen Augen der erlegten Rehe gehabt hatte. Sie erzählte, dass sie als Kind vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Mutter nach Frankreich gereist war. Sie waren mit dem Zug und mit dem Schiff unterwegs gewesen. Sie beschrieb mir, wie sie das Rattern des Zugs in den Rippen gespürt hatte, und sie konnte sich noch gut an die an Haken angebrachten Vorhänge und einzelnen Abteile und das rhythmische Schnaufen und Zischen der Dampflokomotive erinnern. Sie erzählte mir von dem sechswöchigen Indien-Aufenthalt mit ihrem Vater, ein Jahr zuvor. Damals war sie sehr krank gewesen.
Wenn sie die Asche auf eine Untertasse schnippte, erhaschte ich manchmal einen Blick auf ihre rot lackierten Fußnägel, den goldenen Schimmer ihrer rasierten Beine oder den gewölbten Spann eines Fußes, und immer fiel mein Blick auf ihre üppigen, makellosen Brüste. Gab es Männer auf dieser Erde, fragte ich mich, die, während sie Nila geliebt hatten, diese Brüste liebkost und geküsst hatten? Konnte es danach noch ein anderes Ziel im Leben geben? Was tat ein Mann, nachdem er auf dem Gipfel der Welt gestanden hatte? Wenn sie mich dann wieder
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