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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Wahdati. Er unterrichtete mich, um mir zu helfen, ja, aber er tat es auch aus Eigennutz, denn so konnte ich ihm aus seinen Lieblingsbüchern vorlesen. Er las natürlich auch selbst, aber nie lange, weil es ihn sehr anstrengte.
    Wenn ich zu tun hatte und nicht bei ihm sein konnte, hatte er kaum eine Beschäftigung. Er hörte Schallplatten oder musste sich damit begnügen, aus dem Fenster zu schauen und die Vögel in den Bäumen, den Himmel und die Wolken zu betrachten, den auf der Straße spielenden Kindern oder den Obstverkäufern zu lauschen, die ihre Esel zogen und dabei riefen: Kirschen! Frische Kirschen!
    Als ich ihm von der Überraschung erzählte, fragte er, was es sei. Ich schob einen Arm hinter seinen Nacken und sagte, wir müssten erst nach unten. Damals konnte ich ihn problemlos heben, denn ich war noch immer jung und kräftig. Ich trug ihn nach unten ins Wohnzimmer und bettete ihn auf das Sofa.
    »Und?«, fragte er.
    Ich holte den Rollstuhl aus dem Foyer. Ich hatte seit über einem Jahr versucht, ihm ein solches Gefährt schmackhaft zu machen, aber er hatte sich hartnäckig dagegen gesträubt. Nun hatte ich kurzerhand und eigenmächtig einen gekauft. Er schüttelte den Kopf.
    »Sind es die Nachbarn?«, fragte ich. »Ist Ihnen das Gerede der Leute peinlich?«
    Er forderte mich auf, ihn wieder nach oben zu bringen.
    »Mir ist es vollkommen egal, was die Nachbarn sagen oder denken«, sagte ich. »Und deshalb drehen wir heute eine kleine Runde. Es ist ein herrlicher Tag, und wir beide, Sie und ich, werden spazieren fahren, so viel steht fest. Denn wenn wir nicht bald vor die Tür gehen, drehe ich noch durch, und wie soll ich Ihnen weiter behilflich sein, wenn ich durchdrehe? Ganz ehrlich, Suleiman – hören Sie auf zu heulen. Sie benehmen sich wie ein altes Weib.«
    Nun lachte und weinte er gleichzeitig und sträubte sich weiter, aber da hatte ich ihn schon in den Rollstuhl gesetzt, hatte ihm eine Decke über die Beine gelegt und ihn zur Haustür hinausgeschoben.
    Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass ich anfangs tatsächlich nach einem Ersatz für mich suchte. Das verschwieg ich Suleiman, denn ich hielt es für besser, erst eine geeignete Person zu finden, bevor ich ihm davon erzählte. Eine ganze Reihe von Bewerbern stellte sich vor. Ich traf sie draußen vor dem Haus, damit Suleiman nicht misstrauisch wurde. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sich die Suche als so schwierig erweisen würde. Einige Bewerber waren ähnlich gestrickt wie Zahid – ich witterte das auf Anhieb, weil ich mein Leben lang mit Leuten dieses Schlages zu tun gehabt habe –, und ich schickt sie gleich wieder weg. Andere konnten nicht gut genug kochen, denn wie schon erwähnt war Suleiman ein sehr wählerischer Esser. Oder sie konnten nicht Auto fahren. Viele waren des Lesens nicht mächtig, ein großer Nachteil, weil ich Suleiman regelmäßig am späten Nachmittag vorlas. Manche erwiesen sich als ungeduldig, wieder andere offenbarten Defizite, die darauf hindeuteten, dass sie mit der Pflege des anstrengenden, oft kleinkindlich trotzigen Suleiman überfordert wären. Und manchmal spürte ich, dass ihnen das für die mühsame Arbeit nötige Temperament fehlte.
    Drei Jahre später war ich immer noch für Suleiman tätig und redete mir ein, ich würde mich aus dem Staub machen, sobald ich einen vertrauenswürdigen Ersatz gefunden hatte. Drei Jahre später wusch ich ihn immer noch tagein tagaus mit einem nassen Tuch, schnitt ihm die Haare und Fingernägel und rasierte ihn. Ich fütterte ihn und gab ihm die Bettpfanne, wischte ihn sauber, als wäre er ein Säugling, und wusch die dreckigen Windeln. Wir entwickelten ein unausgesprochenes Einverständnis und eine stille, auf Routine und Vertrautheit aufbauende Sprache, und natürlich entstand zwischen uns allmählich eine Nähe, die vorher undenkbar gewesen wäre.
    Sobald ich ihn also zum Rollstuhl überredet hatte, nahmen wir das alte Ritual der morgendlichen Spaziergänge wieder auf. Ich schob ihn aus dem Haus und wir grüßten die Nachbarn, die uns auf der Straße begegneten. Einer von ihnen war Herr Bashiri, der gerade seinen Abschluss an der Universität in Kabul gemacht hatte und im Außenministerium arbeitete. Sein Bruder und er waren mit ihren Frauen in ein großes zweistöckiges Anwesen gezogen, drei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite. Manchmal begegneten wir Herrn Bashiri morgens, wenn er sich gerade in sein Auto setzte, um zur Arbeit zu fahren, und ich

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