Traumsammler: Roman (German Edition)
erzählt weiter von den Unterlagen, die Farooq einreichen will, von dem Richter, der hoffentlich den Vorsitz führen wird, ein Cousin zweiten Grades von Farooqs Frau. Idris lehnt sich gegen das Fenster und wartet darauf, dass die Tablette zu wirken beginnt.
»Idris?«, fragt Timur leise.
»Ja?«
»Ganz schön traurige Scheiße, die wir da gesehen haben, was?«
Manchmal hast du wirklich Geistesblitze, Bruder. »Jep«, murmelt Idris.
»Tausend Tragödien pro Quadratmeile, Alter.«
Kurz darauf beginnt Idris’ Kopf zu schwirren. Beim Eindämmern denkt er an seinen Abschied von Roshi, daran, wie er ihre Hand gehalten und ihr versprochen hat, dass sie ihn bald wiedersehen werde, während sie leise, fast stumm an seinem Bauch schluchzte.
* * *
Auf der Heimfahrt vom Flughafen in San Francisco vermisst Idris den chaotischen Kabuler Verkehr. Er findet es seltsam, den Lexus auf der schlaglochfreien 101 Richtung Süden zu steuern. Hier verläuft alles in geregelten Bahnen, überall am Freeway stehen Beschilderungen, alle halten sich an die Regeln, blinken, weichen aus. Bei der Erinnerung an die draufgängerischen, jugendlichen Taxifahrer, denen sie in Kabul ihr Leben anvertraut haben, muss er lächeln.
Nahil, die neben ihm sitzt, hat jede Menge Fragen. War Kabul sicher, wie war das Essen, war er krank, hat er alles fotografiert und gefilmt? Idris antwortet, so gut es geht. Er erzählt von den zerbombten Schulen, den in Gebäuden ohne Dach wohnenden Hausbesetzern, dem Dreck, den Bettlern, der unzuverlässigen Stromversorgung, aber es kommt ihm vor, als wollte er ein Musikstück beschreiben. Es entsteht nicht wirklich ein Bild. Die fesselnd bunten Details Kabuls – wie das zwischen Trümmern stehende Fitnessstudio mit einem Bild Schwarzeneggers auf einem Fenster –, diese Details sind ihm entglitten, und deshalb kommen ihm seine Schilderungen so nichtssagend und langweilig vor wie der Bericht einer beliebigen Nachrichtenagentur.
Seine hinten sitzenden Söhne hören geduldig zu oder tun jedenfalls so. Idris kann ihre Ungeduld spüren. Dann fragt der achtjährige Zabi, ob Nahil den Film für ihn anmachen kann. Der zwei Jahre ältere Lemar reißt sich noch etwas länger zusammen, aber schließlich hört Idris das Dröhnen der Rennwagen auf dem Nintendo DS.
»Was ist los mit euch, Jungs?«, schimpft Nahil. »Euer Vater ist aus Kabul zurück. Seid ihr nicht neugierig? Habt ihr denn gar keine Fragen?«
»Schon gut«, sagt Idris. »Lass sie nur.« Doch ihr mangelndes Interesse und die Tatsache, dass sie ihr privilegiertes Leben in seliger Verblendung für selbstverständlich halten, ärgert ihn doch . Er spürt, wie sich plötzlich eine Kluft zwischen ihm und seinen Söhnen, ja sogar Nahil auftut, die sich fast nur nach den Restaurants erkundigt und fragt, warum es in den Häusern keine Abwasserleitungen gibt. Idris betrachtet seine Familie so vorwurfsvoll, wie er nach seiner Ankunft in Kabul von den Einheimischen angeschaut wurde.
»Ich komme um vor Hunger«, sagt er.
»Worauf hast du Appetit?«, fragt Nahil. »Sushi? Italienisch? Drüben in Oakridge gibt es einen neuen Inder.«
»Ich habe Lust auf afghanisches Essen«, sagt er.
Sie fahren zu Abe’s Kabob-Haus im Osten San Josés, in der Nähe des alten Berryessa-Flohmarkts. Abdullah, der Besitzer, ist ein grauhaariger Mann Anfang sechzig mit Schnauzbart und kräftigen Händen. Seine Frau und er sind Patienten von Idris. Als Idris mit der Familie das Restaurant betritt, begrüßt Abdullah sie winkend hinter der Kasse. Abe’s Kabob-Haus ist ein kleiner Familienbetrieb. Es gibt nur acht Tische, oft mit klebrigen Plastikdecken. Die Speisekarten sind in Plastik eingeschweißt, an den Wänden hängen Poster von Afghanistan, in einer Ecke steht ein alter Getränkeautomat. Abdullah begrüßt die Gäste, bedient die Kasse und räumt ab. Sultana, seine Frau, ist die Seele des Restaurants. Idris kann sehen, dass sie gerade in der Küche zu tun hat, ein Haarnetz auf dem Kopf, die Augen wegen des Dampfes zusammengekniffen. Sie haben Idris erzählt, dass sie gegen Ende der 70er, nach der Machtergreifung der Kommunisten in Afghanistan, in Pakistan geheiratet haben. Sie erhielten 1982, dem Jahr, in dem ihre Tochter Pari geboren wurde, Asyl in den USA.
Pari nimmt die Bestellung auf. Sie ist nett und höflich, hat die helle Haut ihrer Mutter und auch deren Blick geerbt, aus dem emotionale Stärke spricht. Sie ist sonderbar unförmig: Ihr Oberkörper ist zierlich und schlank,
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