Traumsammler: Roman (German Edition)
es wäre, wenn er sie in die Staaten mitnehmen, wie sie mit Zabi und Lemar, seinen zwei Söhnen, auskommen würde. Nahil und er haben erst letztes Jahr darüber gesprochen, ob sie noch ein drittes Kind wollen.
»Und was nun?«, fragt Amra am Tag vor Idris’ Abflug.
Zuvor hatte Roshi ihm ein Bild geschenkt, mit Buntstiften auf einen Krankenhauszettel gemalt, das zwei Strichmännchen vor einem Fernseher zeigt. Idris hatte auf die Figur mit den langen Haaren gezeigt. Bist du das?
Und das bist du, Kaka Idris.
Hattest du lange Haare? Früher?
Meine Schwester hat sie jeden Abend gebürstet. Sie machte es so, dass es nicht wehtat.
Sie war bestimmt eine gute Schwester.
Wenn die Haare länger sind, kannst du sie wieder bürsten.
Ich glaube, das würde mir gefallen.
Geh nicht, Kaka. Du darfst nicht abreisen.
»Sie ist ein süßes Mädchen«, sagt er zu Amra. Und er meint es ehrlich. Wohlerzogen und außerdem bescheiden. Er denkt mit etwas schlechtem Gewissen an Zabi und Lemar, die ihre Abneigung gegen afghanische Namen schon vor langer Zeit bekundet haben und im Begriff sind, sich in kleine Tyrannen zu verwandeln, zu jenen herrischen amerikanischen Kindern zu werden, die Nahil und er eigentlich auf keinen Fall hatten großziehen wollen.
»Sie ist eine Kämpferin«, sagt Amra.
»Stimmt.«
Amra lehnt sich gegen die Wand. Zwei Sanitäter rennen mit einer Trage an ihnen vorbei. Darauf liegt ein Junge mit blutigem Kopfverband und klaffender Oberschenkelwunde.
»Andere Afghanen aus Amerika oder Europa«, sagt Amra, »kommen vorbei und fotografieren sie. Sie filmen sie. Sie machen Versprechungen. Dann fahren sie zurück nach Hause und zeigen alles ihren Familien. Als wäre Roshi ein Zootier. Ich lasse es zu, weil ich hoffe, dass vielleicht jemand hilft. Aber ich höre nie wieder etwas von ihnen. Also frage ich dich noch einmal: Was nun?«
»Sie braucht die Operation«, sagt er. »Und ich möchte sie ihr ermöglichen.«
Sie schaut ihn verhalten an.
»Zu unserer Gruppe gehört eine neurochirurgische Klinik. Ich rede mit meiner Chefin. Wir holen Roshi nach Kalifornien, damit sie operiert werden kann.«
»Ja. Aber das Geld.«
»Wir werden Spendengelder sammeln. Und wenn nicht, muss ich eben dafür aufkommen.«
»Du zauberst das Geld aus der Mütze.«
Er lacht. »Ja, genau. Aber eigentlich heißt es: Aus dem Hut.«
»Wir brauchen die Erlaubnis des Onkels.«
»Falls er sich je wieder blicken lässt.« Seit Idris dem Onkel die zweihundert Dollar gegeben hat, ist der Mann wie vom Erdboden verschluckt.
Amra lächelt ihn an. Idris hat so etwas noch nie getan. Er stürzt sich kopfüber in diese Verpflichtung, und das löst ein berauschendes, benebelndes, ja euphorisches Gefühl in ihm aus, das ihm Kraft gibt und ihm fast den Atem raubt. Zu seinem eigenen Erstaunen spürt er, wie ihm Tränen in die Augen steigen.
» Hvala «, sagt Amra. »Danke.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.
* * *
»Ich habe eine dieser Niederländerinnen gevögelt«, erzählt Timur. »Von der Party. Weißt du noch?«
Idris, der den Anblick der braunen, wie weichgezeichneten Gipfel des tief unter ihnen liegenden Hindukusch bestaunt, reißt sich vom Fenster los und dreht sich zu Timur um.
»Die Brünette. Habe eine halbe blaue Pille eingeworfen und sie durchgefickt, bis der Muezzin gesungen hat.«
»Mein Gott. Wirst du denn nie erwachsen?«, erwidert Idris, der sich ärgert, weil Timur ihn schon wieder mit dem Wissen über seine Untreue, sein Fehlverhalten, seine grotesken Machoallüren belastet.
Timur grinst. »Vergiss nicht, Cousin: Was in Kabul geschieht …«
»Lass gut sein.«
Timur lacht. Weiter hinten im Flugzeug scheint eine kleine Party zu steigen. Irgendjemand singt auf Paschto, ein anderer klopft auf eine Styroporplatte wie auf eine tamboura .
»Kaum zu fassen, dass wir den alten Nabi getroffen haben«, murmelt Timur. »Unglaublich.«
Idris fischt die Schlaftablette, die er aufgespart hat, aus der Brusttasche und schluckt sie trocken.
»Ich fliege nächsten Monat wieder hin«, sagt Timur, der die Augen schließt und die Arme vor der Brust verschränkt. »Wird noch ein paar Flüge mehr kosten, aber am Ende wird es sich auszahlen.«
»Vertraust du diesem Farooq?«
»Scheiße, nein. Warum fliege ich denn wieder hin?«
Farooq ist der von Timur angeheuerte Anwalt. Er ist darauf spezialisiert, Exilafghanen bei der Wiedererlangung ihrer früheren Kabuler Immobilien zu helfen. Timur
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