Traumsammler: Roman (German Edition)
Pari, die offenbar hätte sicherstellen sollen, dass ihr Trinken und ihr jahrelanges, verzweifeltes Ringen um Glück ein Ende nahmen; das hartnäckige Verfolgen von Wegen, die sich stets als Sackgasse erwiesen; die bitteren Enttäuschungen, die ihre Maman jedes Mal ein Stückchen weiter aus der Spur warfen, sie noch schwerer beschädigten, ihre Hoffnung auf Glück peu à peu zunichtemachten. Wer sollte ich sein, Maman , denkt Pari. Welche Rolle hast du mir zugedacht, als ich in deinem Bauch heranwuchs – falls ich überhaupt darin war? Sollte ich das Loch in deinem Herzen stopfen? Ein Same der Hoffnung sein? Ein Ticket für deine Reise aus der Finsternis? Wenn ja, dann habe ich deine Erwartungen nicht erfüllt. Bei weitem nicht. Ich habe deinen Schmerz nicht gelindert, sondern war nur ein weiterer Irrtum, eine zusätzliche Last, und das hast du bestimmt früh bemerkt. Das war dir sicher bewusst. Aber was hättest du tun sollen? Du konntest mich schließlich nicht einfach beim Pfandleiher versetzen.
Vielleicht hatte ihre Maman es mit diesem Interview noch einmal allen zeigen wollen.
Pari sucht unter der Markise einer Brasserie Schutz vor dem Regen, ein paar Straßen westlich des Krankenhauses, in dem Zahia einen Teil ihrer Ausbildung absolviert. Sie zündet sich eine Zigarette an, erwägt, Colette anzurufen. Sie haben nach der Gedenkfeier nur ein oder zwei Mal miteinander gesprochen. Früher stopften sie sich Kaugummis in den Mund und kauten darauf herum, bis ihre Kiefer schmerzten, setzten sich vor den Schminkspiegel ihrer Maman und bürsteten einander die Haare, steckten sie hoch. Pari sieht auf der anderen Straßenseite eine alte Frau, die, in ein Regencape aus Plastik gehüllt, auf dem Bürgersteig dahintrottet, gefolgt von einem kleinen, braunen Terrier. Und aus dem dichten Nebel, der Paris Erinnerungen umgibt, löst sich nicht zum ersten Mal ein kleiner Schweif, der langsam die Gestalt eines Hundes annimmt. Kein Schoßhund wie der der alten Frau, sondern ein großes, wildes Geschöpf, dreckig, struppig und mit zerschlitzten Ohren und Schwanz. Pari weiß nicht recht, ob es sich um eine Erinnerung oder den Geist einer solchen oder keines von beidem handelt. Sie hat ihre Maman einmal gefragt, ob sie in Kabul einen Hund hatten, und ihre Maman hatte geantwortet: Du weißt doch, dass ich Hunde nicht mag. Sie haben keine Selbstachtung. Sie lieben einen sogar dann noch, wenn man sie tritt. Das ist deprimierend.
Und ihre Maman hatte noch etwas gesagt.
Ich erkenne mich in dir nicht wieder. Ich weiß nicht, was für ein Mensch du bist.
Pari wirft die Zigarette weg. Sie beschließt, Colette anzurufen. Sich mit ihr auf einen Tee zu verabreden. Schauen, wie es ihr so geht und mit wem sie gerade zusammen ist. Wie früher einen Schaufensterbummel mit ihr machen. Hören, ob ihre alte Freundin noch immer für eine Reise nach Afghanistan zu haben ist.
* * *
Pari verabredet sich tatsächlich mit Colette. Sie treffen sich in einer beliebten Bar mit marokkanischer Einrichtung, lila Vorhängen, orangefarbenen Kissen und einem alten, auf einer kleinen Bühne spielenden Musiker. Colette erscheint zu Paris Überraschung in Begleitung eines jungen Mannes namens Eric Lacombe. Er gibt Schülern der siebten und achten Klasse in einem Lycée im 18. Arrondissement Schauspielunterricht. Er erzählt Pari, dass sie einander vor ein paar Jahren bei einer Studentendemo begegnet sind. Pari kann sich zuerst nicht erinnern, aber dann fällt ihr ein, dass Colette damals stinksauer auf Eric war, weil so wenig Leute zur Demo gekommen waren, und auf seine Brust eingehämmert hatte. Sie lassen sich auf mangofarbenen Plüschkissen auf dem Boden nieder und bestellen etwas zu trinken. Pari hält die beiden anfangs für ein Paar, aber als Colette nicht aufhört, Erics Vorzüge herauszustellen, begreift sie, dass sie ihn um ihretwillen mitgebracht hat. Das wäre ihr normalerweise peinlich, aber ihr Unbehagen wird durch Erics Befangenheit gemildert. Pari findet es amüsant, ja sogar liebenswert, dass er immer wieder rot wird und beschämt den Kopf schüttelt. Sie betrachtet ihn heimlich, während sie Brot mit schwarzer Olivenpaste essen. Er sieht nicht gerade blendend aus. Seine langen, dünnen Haare hat er am Hinterkopf mit einem Gummiband zusammengebunden. Seine Hände sind klein, seine Haut ist blass. Seine Nase ist zu schmal, seine Stirn zu gewölbt, das Kinn mehr als fliehend, aber beim Grinsen strahlen seine Augen, und er beschließt jeden Satz
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