Traumsammler: Roman (German Edition)
sich an den Duft seiner Lavendelseife, an seine hohe, glänzende Stirn, seine langen Finger. An seine Manschettenknöpfe, oval und mit Einlagen aus Lapislazuli, an die Bügelfalte seiner Anzughose. Sie hat die Staubwölkchen vor Augen, die beim Toben über dem Teppich hingen.
Pari hatte sich immer gewünscht, von ihrer Mutter einen Hinweis zu bekommen, der ihre losen Erinnerungsfetzen in einen einigermaßen schlüssigen Zusammenhang gebracht hätte. Aber ihre Maman war meist wortkarg. Sie schwieg sich über die Details ihres Lebens und ihre gemeinsamen Jahre in Kabul aus. Sie gab ihrer Tochter keine Einblicke in die Vergangenheit, und deshalb hörte Pari irgendwann auf zu fragen.
Und nun stellt sich heraus, dass ihre Maman diesem Etienne Boustouler, einem Journalisten, mehr über sich selbst und ihr Leben erzählt hat, als sie ihrer Tochter gegenüber je preisgegeben hat.
Oder auch nicht.
Pari hat das Interview dreimal gelesen. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Vieles klingt falsch in ihren Ohren, teilweise liest es sich wie eine Parodie. Wie ein kitschiges Melodrama mit in Ketten liegenden Schönheiten, unglücklichen Affären und allgegenwärtiger Unterdrückung, atemlos und temperamentvoll erzählt.
Pari geht nach Westen, in Richtung Pigalle. Sie schreitet energisch aus, die Hände in den Taschen des Regenmantels. Der Himmel verdunkelt sich rasant, der Regen wird immer steter und heftiger, peitscht ihr ins Gesicht, rinnt über Fenster, trübt das Licht der Autoscheinwerfer. Pari kann sich nicht daran erinnern, ihren Großvater, den Vater ihrer Maman, kennengelernt zu haben. Sie kennt nur das Foto, das ihn beim Lesen am Schreibtisch zeigt, bezweifelt aber, dass er der schnurrbartzwirbelnde böse alte Mann war, als der er ihr stets geschildert wurde. Pari glaubt, ihre Maman zu durchschauen. Sie macht sich ihre eigenen Gedanken. So wie sie es sieht, hat sich ihr Großvater ernsthaft um das Wohlergehen seiner tief unglücklichen, zur Selbstzerstörung neigenden Tochter gesorgt, die drauf und dran war, ihr Leben wegzuwerfen. Er war ein Mann, der Demütigungen und wiederholte Verletzungen ertragen musste und trotzdem zu seiner Tochter hielt. Er reiste mit ihr nach Indien, nachdem sie erkrankt war, und blieb dort sechs Wochen bei ihr. Worin bestand der wahre Grund für die Behandlung? Was, fragt sich Pari, die an die vertikale Narbe denken muss, ist in Indien mit ihr geschehen? Zahia hat auf ihre Frage geantwortet, dass ein Kaiserschnitt immer horizontal vorgenommen wird.
Und das, was ihre Maman dem Journalisten über ihren Mann, Paris Vater, erzählt hat? War das nur Verleumdung? War er tatsächlich in Nabi, den Chauffeur, verliebt? Warum hätte sie dies, falls es stimmt, nach all den Jahren enthüllen sollen? Um Verwirrung zu stiften, jemanden zu demütigen oder zu verletzen? Aber wen?
Was sie selbst betrifft, so wundert sich Pari weder über die grobe Art, die ihre Maman ihr gegenüber oft an den Tag gelegt hat – nicht nach ihrer Beziehung mit Julien –, noch über die beschönigende, bruchstückhafte Schilderung ihrer Rolle als Mutter.
Lügen?
Und dennoch.
Ihre Maman war eine begabte Schriftstellerin. Pari hat nicht nur jedes Wort gelesen, das ihre Mutter auf Französisch geschrieben hat, sondern auch jedes von ihr aus dem Farsi übersetzte Gedicht, alles von unbestreitbarer Kraft und Schönheit. Aber wenn die Lebensgeschichte, die sie dem Journalisten aufgetischt hatte, eine Lüge war, woher stammten dann die Gedanken und Bilder in ihren Gedichten? Woher rührten ihre herrlichen und aufrichtigen, harten und traurigen Worte? War sie nur eine begabte Hochstaplerin? Eine Magierin, die die Leser durch die Beschwörung von Gefühlen in Bann schlug, die ihr selbst fremd waren, die ihren Stift führte wie einen Zauberstab? War so etwas überhaupt möglich?
Pari weiß es nicht. Trotzdem könnte ihre Maman genau diese Absicht verfolgt haben – Pari den Boden unter den Füßen wegzuziehen, sie gezielt aus dem Gleichgewicht zu bringen, zu verstören, sich selbst zu entfremden, an allem zweifeln zu lassen, worauf ihr Leben gründet, und ihr ein so tiefes Gefühl der Verlorenheit zu geben, als würde sie in stockdunkler Nacht durch eine Wüste irren, jeder Wahrheit beraubt, und auf ein winziges Licht in der Ferne zustreben, das immer wieder erlischt.
Vielleicht, denkt Pari, ist dies die Rache ihrer Maman. Nicht nur für Julien. Sondern auch für die Enttäuschung, die Pari für sie dargestellt hat.
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