Traumsammler: Roman (German Edition)
Verwendung modularer Formen in der Topologie und der theoretischen Physik vorstellen. Ihr Vortrag erfährt große Anerkennung, und im Anschluss geht Pari mit einigen Kollegen in ein lautes, typisch bayerisches Lokal. Sie kehrt vor Mitternacht erschöpft in ihr Hotelzimmer zurück und schläft ein, ohne sich umgezogen oder gewaschen zu haben. Um halb drei Uhr früh wird sie vom Klingeln des Telefons geweckt – Eric ruft aus Paris an.
»Es geht um Isabelle«, sagt er. Sie habe Fieber. Ihr Gaumen sei geschwollen und würde bei der leisesten Berührung stark bluten. »Ihre Zähne sind kaum noch zu sehen, Pari. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe irgendwo gelesen, dass es …«
Pari will, dass er aufhört. Sie würde am liebsten sagen, er soll still sein, weil sie es nicht erträgt, aber es ist zu spät. Sie hört das Wort »Kinderleukämie«, vielleicht auch Lymphom, aber wo ist da der Unterschied? Pari setzt sich auf die Bettkante, sitzt da wie ein Stein, ihr Kopf dröhnt, und sie schwitzt am ganzen Körper. Sie ist wütend auf Eric, weil er sie mit etwas so Grauenhaftem belastet, und das mitten in der Nacht und siebenhundert Kilometer weit weg. Sie fühlt sich hilflos, ärgert sich über sich selbst. Wie konnte sie sich freiwillig auf ein Leben voller Qualen und Sorgen einlassen? Verrückt. Der schiere Wahnsinn. Sie hat idiotischerweise und wider alle Unwägbarkeiten geglaubt, dass eine Welt, über die sie keine Kontrolle hat, ihr das, was ihr am teuersten ist, nicht rauben würde. Sie hat darauf vertraut, dass die Welt sie nicht zerstören würde. Ich habe nicht die Kraft dazu . Sie murmelt diese Worte halblaut vor sich hin: »Ich habe nicht die Kraft dazu.« Gibt es eine riskantere, unvernünftigere Entscheidung als die, Mutter zu werden?
Und ein Teil von ihr – Gott stehe mir bei , denkt sie, möge Gott mir verzeihen –, ein Teil von ihr ist wütend auf Isabelle, weil sie ihr dies antut, sie leiden lässt wie einen Hund.
»Eric. Eric. Ecoute-moi . Ich rufe zurück. Ich muss erst mal auflegen.«
Sie leert ihre Handtasche auf dem Bett aus, findet das kleine, rotbraune Notizbuch mit ihren Telefonnummern. Sie ruft in Lyon an. Dort lebt Colette mit Didier, ihrem Mann, und dort hat sie eine kleine Reiseagentur eröffnet. Didier will Arzt werden. Er nimmt ab.
»Du weißt doch, dass ich mich auf Psychiatrie spezialisiere, Pari«, sagt er.
»Ich weiß. Ich weiß. Ich dachte nur …«
Er stellt ein paar Fragen. Hat Isabelle abgenommen? Leidet sie an nächtlichen Schweißausbrüchen, auffälligen Rötungen der Haut, Müdigkeit oder chronischem Fieber?
Schließlich sagt er, Eric solle gleich morgen früh mit ihr zum Arzt gehen, aber wenn er sich richtig an seine allgemeinmedizinische Ausbildung erinnere, klinge es nach akuter Gingivostomatitis.
Pari umklammert den Hörer so fest, dass ihre Hand schmerzt. »Bitte«, sagt sie geduldig. »Didier.«
»Ah, entschuldige. Übersetzt heißt das, dass es sich um ein erstes Auftreten von Mundherpes handelt.«
»Mundherpes.«
Dann fügt er die wunderbarsten Worte hinzu, die Pari in ihrem Leben je gehört hat. »Sie wird sicher bald wieder gesund.«
Pari ist Didier bisher erst zweimal begegnet, vor und nach seiner Heirat mit Colette. Doch in diesem Moment liebt sie ihn aus tiefstem Herzen. Und das sagt sie ihm weinend, sie sagt mehrmals, dass sie ihn liebe, und er wünscht ihr lachend eine gute Nacht. Pari ruft Eric an, der verspricht, am Morgen gleich zu Doktor Perrin zu gehen. Pari liegt im Bett, ihre Ohren klingeln, und sie betrachtet das Licht, das durch die mattgrünen Fensterläden fällt. Sie erinnert sich daran, dass sie mit acht mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Ihre Maman wollte sie nicht allein lassen und bestand darauf, auf einem Stuhl neben ihrem Bett zu schlafen, und Pari empfindet eine überraschende und späte Verbundenheit mit ihrer Mutter. Sie hat sie im Laufe der letzten Jahre oft vermisst. Natürlich bei ihrer Hochzeit, bei Isabelles Geburt und in unzähligen anderen Momenten, aber nie so sehr wie hier, in diesem Münchener Hotelzimmer, während dieser schrecklichen und wundersamen Nacht.
Sobald sie am nächsten Tag wieder in Paris ist, sagt sie zu Eric, dass sie nach Alains Geburt besser keine weiteren Kinder bekommen sollten. Das erhöhe nur das Risiko eines gebrochenen Herzens.
1985, Isabelle ist sieben, Alain vier und der kleine Thierry zwei, nimmt Pari einen Lehrauftrag an einer angesehenen Pariser Universität an. Sie muss
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