Traumsammler: Roman (German Edition)
den üblichen akademischen Hickhack und die Sticheleien über sich ergehen lassen – was nicht weiter verwundert, weil sie mit ihren sechsunddreißig Jahren nicht nur die jüngste unter den Professoren, sondern auch eine von nur zwei Frauen im Seminar ist. All dies lässt sie mit einer Gelassenheit an sich abprallen, die ihre Maman vermutlich nicht gehabt hätte. Sie geht nicht auf Konfrontationskurs. Sie beschwert sich nicht. Sie schleimt sich auch nicht ein. Kritik lässt sich natürlich nicht vermeiden, aber zu dem Zeitpunkt, als die Berliner Mauer fällt, sind auch in ihrem akademischen Leben die Mauern gefallen, und sie hat die meisten ihrer Kollegen durch ihre sachliche, entwaffnende und offene Art für sich eingenommen. Sie schließt Freundschaften in ihrem Seminar und nicht nur dort, nimmt an Veranstaltungen der Universität und am Fundraising teil, an den gelegentlichen Cocktailrunden und Dinnerpartys. Eric begleitet sie zu diesen Abendveranstaltungen. Er trägt immer dieselbe Wollkrawatte und denselben Cordblazer mit Flicken auf den Ellbogen – ein privater Witz zwischen ihnen. Er schlendert durch den vollen Raum, kostet Hors-d’œuvres, nippt am Wein, lässt freundlich verdutzt den Blick schweifen und muss immer wieder von Pari davor bewahrt werden, anderen Mathematikern seine Meinung über dreidimensionale Flächen und diophantine Gleichungen kundzutun.
Auf jeder Party kommt unweigerlich der Moment, an dem Pari zu den Entwicklungen in Afghanistan befragt wird. Ein angeheiterter Gastprofessor namens Chatelard fragt Pari eines Abends, was nach dem Abzug der Sowjets in Afghanistan geschehen werde. »Wird Ihr Volk dann endlich in Frieden leben können, Madame le Professeur?«
»Schwer zu sagen«, antwortet Pari. »Genau genommen bin ich nur auf dem Papier Afghanin.«
» Non mais, quand même «, sagt er. »Sie müssen doch gewisse Einsichten besitzen.«
Sie lächelt, versucht, die Unsicherheit zu überspielen, die sie bei solchen Fragen stets überkommt. »Ich weiß nur das, was ich in Le Monde lese. Genau wie Sie.«
»Aber Sie sind doch dort aufgewachsen, non ?«
»Ich war noch sehr klein, als ich fortging. Haben Sie zufällig meinen Mann gesehen? Er ist derjenige mit den Flicken auf den Ellbogen.«
Sie sagt die Wahrheit. Sie verfolgt die Nachrichten, liest in den Zeitungen über den Krieg und die vom Westen bewaffneten Mudschaheddin, aber sie denkt nur noch selten an Afghanistan. Sie bewohnen inzwischen ein Haus mit vier Zimmern in Guyancourt, zwanzig Kilometer von der Pariser Innenstadt entfernt, und sie hat dort alle Hände voll zu tun. Eric arbeitet weiter als Lehrer und schreibt außerdem Theaterstücke. Eines davon, eine verspielte, politische Farce, wird im Herbst in einem kleinen Pariser Theater, nicht weit vom Hôtel de Ville, uraufgeführt werden, und er ist schon mit einem neuen beauftragt.
Isabelle hat sich zu einem stillen, aber nachdenklich klugen Teenager gemausert. Sie führt Tagebuch und verschlingt jede Woche einen Roman. Sie mag Sinéad O’Connor. Sie hat schöne, schmale Hände, lernt Cello und spielt in wenigen Wochen Tschaikowskis Chanson Triste vor. Sie sträubte sich anfangs gegen den Unterricht, und so ist Pari ihr zuliebe anfangs ein paarmal mitgegangen, um sie zu unterstützen. Dies erwies sich als überflüssig und mühsam. Überflüssig, weil Isabelle rasch aus eigenem Antrieb einen Zugang zu dem Instrument fand, und mühsam, weil Paris Hände beim Spielen schmerzten. Seit einem Jahr wacht sie morgens mit steifen Händen und Handgelenken auf, und es dauert eine halbe, manchmal sogar eine ganze Stunde, bis sie sich gelockert haben. Eric drängt sie nicht mehr, einen Arzt aufzusuchen, sondern besteht inzwischen darauf. »Du bist erst dreiundvierzig, Pari«, sagt er. »Das ist nicht normal.« Pari hat einen Termin vereinbart.
Alain, der Mittlere, hat einen spitzbübischen Charme. Er ist besessen vom Kampfsport. Er war eine Frühgeburt, und er ist für einen Elfjährigen immer noch recht klein, aber was ihm an Körpergröße fehlt, macht er durch Einsatz und Grips wett. Seine Gegner fallen jedes Mal auf seine zarte Gestalt und die dünnen Beine herein. Sie unterschätzen ihn. Wenn Pari und Eric abends im Bett liegen, staunen sie oft über seine enorme Willenskraft und unbändige Energie. Pari sorgt sich weder um Isabelle noch um Alain.
Thierry ist es, der ihr Sorgen macht. Thierry, der unbewusst zu spüren scheint, dass er ungeplant und zufällig auf die Welt kam.
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