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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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halb zehn Uhr anrufen wird, heißt Markos Varvaris. Er hat Pari via Facebook kontaktiert, seine auf Englisch geschriebene Nachricht lautete: Sind Sie die Tochter der Dichterin Nila Wahdati? Wenn ja, würde ich mit Ihnen gern über etwas reden, das für Sie von Interesse sein dürfte. Pari hat im Internet herausgefunden, dass er als plastischer Chirurg für eine Non-Profit-Organisation in Kabul tätig war. Er fängt am Telefon sofort an, auf Farsi zu reden, und Pari muss ihn unterbrechen.
    »Bitte verzeihen Sie, Monsieur Varvaris, aber könnten wir Englisch sprechen?«
    »Gewiss. Entschuldigen Sie bitte. Sie haben das Land in sehr jungen Jahren verlassen, nicht wahr?«
    »Ja, das ist richtig.«
    »Ich habe hier Farsi gelernt. Inzwischen spreche ich es fast fließend. Ich bin 2002 nach Kabul gekommen, kurz nach dem Abzug der Taliban. Eine sehr optimistische Zeit, ja, alles drängte nach Wiederaufbau und Demokratie und so weiter. Heute sieht es natürlich anders aus. Wir bereiten uns gerade auf die Präsidentschaftswahl vor, aber das ist eine andere Geschichte, fürchte ich.«
    Pari hört geduldig zu, während sich Markos Varvaris lang und breit über die logistischen Herausforderungen der Wahl auslässt, die Karzai, so sagt er, gewinnen werde. Dann erzählt er von den besorgniserregenden Vorstößen der Taliban im Norden des Landes, vom wachsenden Einfluss der Islamisten auf die Medien, merkt etwas zur Überbevölkerung Kabuls und den Mietpreisen an und sagt schließlich: »Ich wohne schon seit einigen Jahren in diesem Haus. Wenn ich richtig informiert bin, haben auch Sie hier einst gelebt.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Es war das Haus Ihrer Eltern. So wurde es mir jedenfalls erzählt.«
    »Darf ich fragen, wer Ihnen das erzählt hat?«
    »Der Eigentümer. Er heißt Nabi. Hieß Nabi, sollte ich wohl besser sagen. Er ist leider vor kurzem verstorben. Erinnern Sie sich noch an ihn?«
    Der Name weckt in Pari die Erinnerung an ein junges, gutaussehendes Gesicht mit Koteletten und vollen, dunklen, nach hinten gekämmten Haaren.
    »Ja. Vor allem an den Namen. Er war unser Koch. Und unser Chauffeur.«
    »Beides, ja. Er hat hier, in diesem Haus, seit 1947 gelebt. Dreiundsechzig Jahre. Kaum zu glauben, nicht wahr? Aber wie gesagt: Er ist verstorben. Im letzten Monat. Ich mochte ihn sehr. Alle mochten ihn.«
    »Verstehe.«
    »Nabi hat mir ein Schreiben hinterlassen«, sagt Markos Varvaris. »Eines, das ich erst nach seinem Tod lesen sollte. Ich habe einen afghanischen Kollegen gebeten, es ins Englische zu übersetzen. Genau genommen ist es mehr als nur ein Schreiben. Es ist ein Brief, ein bemerkenswerter Brief. Nabi erzählt darin vieles. Ich habe versucht, Sie zu finden, weil Sie manches darin betrifft und weil er mich darin bittet, den Brief an Sie weiterzugeben. Es hat ein bisschen gedauert, aber dann habe ich Sie aufgespürt. Dank des Internets.« Er lacht kurz auf.
    Ein Impuls sagt Pari, dass sie besser auflegen sollte. Sie weiß intuitiv, dass die Enthüllungen, die dieser Nabi, eine Person aus ferner Vergangenheit, am anderen Ende der Welt zu Papier gebracht hat, der Wahrheit entsprechen. Sie weiß seit langem, dass sie, was ihre Kindheit betrifft, von ihrer Maman belogen wurde. Ja, ihr Leben wurde durch eine Lüge in seinen Grundfesten erschüttert, aber das, was Pari danach auf diesen Grundfesten errichtet hat, steht so wahrhaftig, fest und unerschütterlich da wie eine große Eiche. Eric, ihre Kinder, ihre Enkelkinder, ihre Karriere, Colette. Warum also an der Vergangenheit rühren? Nach all der Zeit? Welchen Sinn sollte das haben? Sie sollte auflegen.
    Aber sie tut es nicht, sondern fragt mit flatterndem Puls und feuchten Händen: »Und was … was steht in diesem Schreiben, diesem Brief?«
    »Nun. Er behauptet zum Beispiel, Ihr Onkel zu sein.«
    »Mein Onkel.«
    »Genauer gesagt Ihr Stiefonkel. Aber das ist nicht alles. Er schreibt noch vieles andere mehr.«
    »Liegt es Ihnen vor, Monsieur Varvaris? Das Schreiben? Der Brief? Oder die Übersetzung? Haben Sie sie zur Hand?«
    »Aber ja.«
    »Würden Sie bitte vorlesen? Lesen Sie es mir vor?«
    »Jetzt sofort, meinen Sie?«
    »Nur, wenn Sie Zeit haben. Ich kann Sie zurückrufen. Dann geht es auf meine Rechnung.«
    »Nein, nicht nötig, nein. Aber sind Sie ganz sicher?«
    » Oui «, sagt sie ins Telefon. »Ganz sicher, Monsieur Varvaris.«
    Er liest alles vor. Den ganzen Brief. Das dauerte seine Zeit. Nachdem er fertig ist, dankt Pari ihm und sagt, sie werde sich bald

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