Traumsammler: Roman (German Edition)
Thierry versinkt immer wieder in verletzendem Schweigen, starrt finster vor sich hin, zickt und sträubt sich, wenn Pari ihn um etwas bittet. Pari glaubt, dass er dies aus reinem Trotz tut. An manchen Tagen scheint sich eine dunkle Wolke auf ihn zu senken. Pari kann sie fast sehen. Die Wolke wird immer größer und dunkler und entlädt sich am Ende in einer bebenden, tobenden Wut, die Pari Angst einjagt und Eric blinzelnd und mit gequältem Lächeln zurücklässt. Pari ahnt intuitiv, dass Thierry immer zu Sorge Anlass geben wird. Sie fragt sich oft, welche Art von Großmutter ihre Maman gewesen wäre. Vor allem für Thierry. Pari ahnt, dass ihre Maman in seinem Fall eine Hilfe hätte sein können, weil sie sich teilweise in ihm wiedererkannt hätte – wenn auch nicht in biologischer Hinsicht. Davon ist Pari seit geraumer Zeit fest überzeugt. Die Kinder wissen von Maman. Isabelle ist besonders neugierig. Sie hat viele ihrer Gedichte gelesen.
»Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt«, sagt sie.
»Ich glaube, sie war umwerfend«, sagt sie.
»Wir wären bestimmt gute Freundinnen geworden, sie und ich. Meinst du nicht auch? Wir hätten die gleichen Bücher gelesen. Ich hätte ihr auf dem Cello vorgespielt.«
»Das hätte ihr bestimmt gefallen«, sagt Pari. »Da bin ich mir ganz sicher.«
Pari hat ihren Kindern den Selbstmord verschwiegen. Eines Tages werden sie es wohl erfahren. Aber nicht von ihr. Sie will sie gar nicht erst wissen lassen, dass eine Mutter fähig dazu ist, ihre eigenen Kinder im Stich zu lassen, ihnen zu vermitteln, dass sie ihr nicht genügen. Was Pari betrifft, so haben Eric und die Kinder ihr immer genügt. Und sie werden ihr immer genügen.
Im Sommer 1994 fahren Pari und Eric mit den Kindern nach Mallorca. Colette organisiert diesen Urlaub über ihre Reiseagentur. Colette und Didier treffen sich mit ihnen auf der Insel, und sie wohnen zwei Wochen in einem Ferienhaus am Strand. Colette und Didier haben keine Kinder. Nicht etwa, weil es unmöglich wäre, sondern weil sie sich dagegen entschieden haben. Das Timing passt Pari gut. Sie hat ihr Rheuma gerade gut im Griff. Sie nimmt einmal in der Woche Methotrexat, das sie gut verträgt. Steroide, die für Schlafstörungen sorgen, musste sie in letzter Zeit zum Glück nicht nehmen.
»Aber ich habe zugenommen«, sagt sie zu Colette. »Und jetzt muss ich mich hier in Spanien auch noch in einen Badeanzug zwängen!« Sie lacht. »Ach, die Eitelkeit.«
Sie erkunden die Insel, fahren zur Sierra de Tramuntana und folgen dann der Nordwestküste, legen Pausen ein, um durch die Olivenhaine und Pinienwälder zu schlendern. Sie essen porcella , ein köstliches Seebarschgericht namens lubina und tumbet , einen Auflauf mit Auberginen und Zucchini. Thierry rührt nichts davon an, und Pari muss in jedem Restaurant darum bitten, dass man ihm Spaghetti mit Tomatensauce macht, ohne Fleisch, ohne Käse. Auf Bitten von Isabelle, die kürzlich die Oper für sich entdeckt hat, besuchen sie eine Aufführung von Giacomo Puccinis Tosca . Colette und Pari lassen heimlich einen Flachmann mit billigem Wodka hin und her gehen, um diese Tortur zu überstehen. Der zweite Akt ist noch nicht vorbei, da sind sie schon beschwipst und kichern wie Schülerinnen über die theatralische Darbietung des Scarpia-Darstellers.
Eines Tages, Didier, Alain und Eric sind morgens zu einer Wanderung um die Bucht von Sóller aufgebrochen, gehen Pari, Colette, Isabelle und Thierry mit einem Lunchpaket an den Strand. Unterwegs wollen sie einen Badeanzug kaufen, in den Isabelle sich verguckt hat, und beim Betreten des Ladens erblickt Pari ihr Spiegelbild im Schaufenster. Sie macht sich in solchen Fällen seit einiger Zeit automatisch darauf gefasst, ihrem gealterten Selbst entgegenzusehen, um den Schreck zu dämpfen. Aber dieses Mal ist sie unvorbereitet, kann sich keiner Illusion hingeben, wird mit der nackten Realität konfrontiert. Sie erblickt eine Frau mittleren Alters in einer schmucklosen, weiten Bluse und einem Strandkleid, das die schlaffen Hautfalten über den Knien nicht verbirgt. Ihre grauen Strähnen glitzern in der Sonne, und trotz Eyeliner und Lippenstift, der ihren Mund in Form bringt, hat sie ein Gesicht, von dem die Blicke der Passanten inzwischen abprallen wie von einem Straßenschild oder einem Briefkasten. Sie betrachtet sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug, um sich der Realität jener Frau bewusst zu werden, die ihr da gegenübersteht, und das ist
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