Traumsammler: Roman (German Edition)
wieder bei ihm melden.
Dann legt sie auf, kocht sich eine Tasse Kaffee, tritt ans Fenster, das den vertrauten Ausblick bietet: Der schmale Kopfsteinpflasterweg, die Apotheke weiter oben in der Straße, der Falafel-Imbiss an der Ecke, die von einer baskischen Familie geführte Brasserie.
Paris Hände zittern. In ihrem Inneren geschieht etwas Sonderbares. Etwas sehr Bemerkenswertes. Sie hat plötzlich ein Bild vor Augen, das Bild einer Axt, die in die Erde fährt und dickes, schwarzes Öl aus dem Boden sprudeln lässt. Genau das passiert mit ihr – Erinnerungen werden angezapft, quellen aus der Tiefe. Sie blickt aus dem Fenster zur Brasserie, aber sie sieht nicht den hageren Kellner mit der schwarzen Schürze, der unter der Markise einen Tisch abwischt, sondern einen kleinen, roten Karren, der mit knarrenden Rädern unter einem Himmel dahinrumpelt, an dem sich die Wolken auffächern, der durch ausgetrocknete Flussläufe und über ockerfarbene Hügel rollt, bergauf und bergab. Sie sieht dicht an dicht stehende Obstbäume, durch deren Laub der Wind geht, Weinstockspaliere zwischen Häusern mit flachen Dächern. Sie sieht Wäscheleinen und Frauen, die an einem Flussufer hocken, eine hin und her schwingende Schaukel unter einem riesigen Baum, einen großen Hund, der sich vor gehässigen Dorfjungen duckt, einen hakennasigen Mann, dessen durchgeschwitztes Hemd am Rücken klebt, während er einen Graben aushebt, und eine verschleierte, über eine Kochstelle gebeugte Frau.
Und ganz hinten, am Rand ihres Blickfelds, kann sie noch etwas ausmachen, einen flüchtigen Schemen, der sie am stärksten anzieht. Eine Gestalt. Sowohl weich als auch hart. Eine weiche Hand, die die ihre umschließt. Ein hartes Knie, auf das sie ihre Wange bettet. Sie sucht nach einem Gesicht, aber es entgleitet ihr jedes Mal, wenn sie sich danach umdreht. Pari spürt, wie sich ein Loch in ihr auftut. Immer, während ihres ganzen Lebens, hat sie jemanden schrecklich vermisst. Jemanden, den sie von Geburt an kannte.
»Bruder«, sagt sie, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ohne sich ihrer Tränen bewusst zu sein.
Dann hat sie plötzlich Verse auf den Lippen, Verse auf Farsi.
Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht.
Pari weiß ganz sicher, dass es weitere Verse gibt, aber sie wollen ihr nicht einfallen.
Sie setzt sich. Sie muss sich setzen. Ihre Beine zittern. Sie wartet darauf, dass der Kaffee fertig ist. Sobald sie sich wieder gefasst hat, denkt sie, wird sie eine Tasse trinken, vielleicht eine Zigarette rauchen, und dann wird sie ins Wohnzimmer gehen und Colette in Lyon anrufen und ihre alte Freundin bitten, eine Reise nach Kabul für sie zu organisieren.
Aber zunächst sitzt sie einfach nur da. Sie schließt die Augen, und als die Kaffeemaschine blubbert, sieht sie hinter ihren Lidern die weichen Schwünge von Hügeln und einen hohen, strahlend blauen Himmel und die hinter einer Windmühle versinkende Sonne und die dunstverhangenen Ketten der Berge, die sich ringsumher bis zum Horizont erstrecken.
Sieben
Sommer 2009
Dein Vater ist ein guter Mensch.«
Adel sah auf. Die Lehrerin, Malalai, hatte ihm das ins Ohr geflüstert, eine dickliche Frau mittleren Alters mit einem perlenbestickten, lila Tuch über den Schultern. Sie lächelte ihn mit geschlossenen Augen an.
»Und du bist ein Glückspilz.«
»Ich weiß«, antwortete er leise.
Gut , flüsterte sie.
Sie standen auf der Vordertreppe der neuen Mädchenschule, ein rechteckiges, hellgrünes Gebäude mit flachem Dach und großen Fenstern, und Adels Vater, sein Baba jan, sprach ein kurzes Gebet und hielt im Anschluss eine mitreißende Rede. Vor ihm stand eine große Schar von Kindern, Eltern und Ältesten, die alle in die grelle Mittagssonne blinzelten, gut hundert Bewohner der Kleinstadt Shadbagh-e-Nau, »Neu-Shadbagh«.
»Afghanistan ist unser aller Mutter«, sagte Adels Vater, den kräftigen Zeigefinger zum Himmel gereckt. Sein Achatring blitzte im Sonnenschein. »Aber es ist eine Mutter voller Schmerzen, und sie leidet seit vielen Jahren. Es trifft sicher zu, dass eine Mutter ihre Söhne braucht, um zu genesen, aber sie braucht auch ihre Töchter. Und zwar im gleichen Maße, wenn nicht noch mehr!«
Seine Worte lösten lauten Beifall, Rufe und zustimmendes Gejohle aus. Adel ließ seinen Blick über die Menge gleiten. Alle sahen gebannt zu seinem Vater auf, dem Mann mit den buschigen, schwarzen Augenbrauen und dem Vollbart, der groß und kräftig über ihnen
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