Traumsammler: Roman (German Edition)
aufragte, mit Schultern, die so breit waren, dass sie den Schuleingang hinter ihm beinahe ausfüllten.
Sein Vater sprach weiter, und Adel fing den Blick Kabirs auf, einer der zwei Leibwächter seines Baba jans, mit einer Kalaschnikow und einer Fliegerbrille, in deren dunklen Gläsern sich die Menschenmenge spiegelte. Kabir war klein und dünn, fast zerbrechlich, und er trug bunte Anzüge in Türkis, Orange oder Lila, aber Baba jan sagte immer, er sei ein Falke, und wenn man Kabir unterschätze, geschehe das auf eigene Gefahr.
»Ihr sollt also wissen, junge Töchter Afghanistans«, schloss Baba jan und breitete die langen, dicken Arme wie zum Willkommen weit aus, »dass ihr nun die ernste Pflicht habt, zu lernen, eifrig zu streben und euch nach Kräften zu bemühen, damit Vater und Mutter stolz auf euch sind, vor allem jedoch unser aller Mutter. Ihre Zukunft liegt in euren Händen, nicht in meinen. Ich bitte euch, diese Schule nicht als mein Geschenk an euch zu betrachten. Es ist nur ein Gebäude, das das wahre Geschenk beherbergt – und das seid ihr. Ihr seid das Geschenk, junge Schwestern, nicht nur für mich, sondern für ganz Shadbagh-e-Nau und in allererster Linie für Afghanistan selbst! Gott segne euch.«
Wieder brauste Beifall auf. Mehrere Menschen riefen: »Gott segne dich, Kommandant Sahib!« Baba jan reckte breit grinsend eine Faust, und Adel war so stolz, dass ihm beinahe Tränen in die Augen getreten wären.
Malalai, die Lehrerin, reichte Baba jan eine Schere. Man hatte ein rotes Band vor dem Eingang zum Klassenraum gespannt. Die Menge trat näher, um besser sehen zu können, und Kabir gab einigen durch einen Wink oder Schubs zu verstehen, Abstand zu halten. Man reckte Handys, um das Durchschneiden des roten Bandes festzuhalten. Baba jan nahm die Schere, hielt kurz inne, drehte sich dann zu Adel um und sagte: »Hier, mein Sohn. Die Ehre gebührt dir.« Er drückte Adel die Schere in die Hand.
Adel blinzelte. »Mir?«
»Na, los«, sagte Baba jan und zwinkerte ihm zu.
Adel durchschnitt das Band. Lang anhaltender Beifall brauste auf. Adel hörte das Klicken von Kameras, und die Leute riefen: »Allahu Akbar!«
Baba jan stand neben der Tür, während die Schülerinnen eine Reihe bildeten und dann nacheinander den Klassenraum betraten. Es waren junge Mädchen zwischen acht und fünfzehn, und alle trugen das weiße Halstuch und die grau-schwarze Nadelstreifenuniform, die Baba jan an sie verteilt hatte. Adel beobachtete, wie sich jede Schülerin vor dem Eintreten schüchtern vorstellte. Baba jan lächelte herzlich, tätschelte Köpfe, sprach ein paar ermutigende Worte. »Viel Erfolg, Bibi Mariam. Lerne fleißig, Bibi Homaira. Mach uns stolz, Bibi Ilham.«
Später stand Adel vor dem schwarzen Land Cruiser und sah zu, wie sein Vater die Hände der Einheimischen schüttelte. Baba jan ließ eine Gebetskette durch die Finger der freien Hand gleiten, während er leicht vorgebeugt dastand und geduldig zuhörte, die Stirn gerunzelt, nickend, und jedem sein Gehör lieh, der vor ihn hintrat, um sich zu bedanken, für ihn zu beten, ihm seinen Respekt zu erweisen. Viele nutzten die Gelegenheit, um ihn um einen Gefallen zu bitten. Eine Mutter, deren krankes Kind dringend nach Kabul zu einem Chirurgen musste, ein Mann, der ein Darlehen für die Eröffnung eines Schusterladens brauchte, ein Mechaniker, dem es an Werkzeug fehlte.
»Kommandant Sahib, wenn Sie die Güte hätten …«
»Ich kann mich an niemand anderen wenden, Kommandant Sahib.«
Außerhalb des engsten Familienkreises wurde Adels Baba jan immer nur mit »Kommandant Sahib« angeredet, obwohl der Abzug der Russen schon lange her war und Baba jan seit über einem Jahrzehnt keine Waffe mehr benutzt hatte. In ihrem Wohnzimmer hingen viele gerahmte Bilder aus den Tagen des Dschihads. Adel hatte sich alle eingeprägt: Sein Vater, an der Motorhaube eines alten, staubigen Jeeps lehnend; auf dem Turm eines verkohlten Panzers hockend, einen Munitionsgurt vor der Brust; mit seinen Männern in stolzer Pose vor einem Hubschrauber, den sie abgeschossen hatten. Dann wieder mit Weste und Patronengurt, die Stirn im Gebet auf den Wüstenboden gedrückt. Adels Vater war damals viel hagerer gewesen, und auf jedem Foto sah man im Hintergrund Berge und Sand.
Baba jan war im Gefecht zweimal von den Russen verwundet worden. Er hatte Adel seine Wunden gezeigt, eine auf der linken Seite, direkt unterhalb des Brustkastens – sie habe ihn, erzählte er, seine Milz gekostet –,
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