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Traumschlange (German Edition)

Traumschlange (German Edition)

Titel: Traumschlange (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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hilflos mit den Schultern.
    „Ich verstehe Sie nicht!“
    Das Telefon der Empfangstheke klingelte. Die Schwester hob ab und begann vergnügt ein Gespräch zu führen, das nur privater Natur sein konnte. Abby verfolgte eine Minute lang die Unterhaltung, dann wandte sie ab und ging zu einem Hinweisschild hinüber. Alles wurde auf Französisch erklärt, aber wenigstens gab es einen farbigen Grundriss des Krankenhauses, der aufzeigte, an welcher Stelle sie sich befand und wie sie zu den einzelnen Stationen gelangen konnte.
    Nach einigem Suchen entdeckte Abby die Station für Infektionskrankheiten, station infectieuse , zweiter Stock. Sie blickte sich suchend nach einem Fahrstuhl um, aber es gab keinen, also schritt sie zu der breiten Treppe hinüber, von der sie annahm, dass es der Aufgang zu den einzelnen Etagen war.
    Rechts von der Treppe führte ein weiterer Gang tiefer in das Krankenhaus hinein. In dem nackten, trostlosen Flur, der von schwachen Deckenstrahlern nur ungenügend ausgeleuchtet wurde, saß ein kleines Mädchen auf dem Fußboden.
    Es mochte vielleicht fünf Jahre alt sein. Die Haare waren zu zwei dünnen Zöpfen geflochten, die ihr links und rechts auf die Schulter fielen. Sie trug ein rotes, geblümtes, an vielen Stellen zerschlissenes Kleid. Abby konnte nicht erkennen, was das Kind tat, aber es sah aus, als spielte es mit seinen Zehen. Mit beiden Händen hielt es seinen rechten Fuß umfasst und bog die Zehen zurück. Es wirkte wie ein Abzählreim, der beim großen Zeh begann, nach rechts und wieder zurück ging.
    Abby trat einen Schritt näher. Das Mädchen blickte auf und entdeckte sie. Es schien keine Angst zu haben.
    Was macht ein Kind hier allein auf dem Gang eines Krankenhauses? Wartet es auf seine Eltern, die auf Besuch bei einem Angehörigen sind?
    Nein, es gab keinerlei Türen, die zu Patientenzimmern führen konnten. Abby überlegte, ob sie zurück zum Empfang gehen sollte, verwarf dann aber den Gedanken. Das Mädchen sah Abby unverwandt an. Abby ging vor dem Kind in die Hocke.
    „Hallo.“
    Die braunen Augen forschten in ihrem Gesicht. Abby ihrerseits nahm das Mädchen in Augenschein. Es war zierlich, mit feinen ebenmäßigen Zügen. Ihre Haut war wesentlich heller als die Hautfarbe der meisten Haitianer, denen Abby bisher begegnet war.
    „Was machst du denn hier?“, fragte Abby ohne Hoffnung verstanden zu werden, aber das Kind begriff instinktiv, was sie von ihm wissen wollte. Lächelnd deutete es auf seinen Fuß.
    Der Schock traf Abby unvorbereitet. Sie sprang auf und wich einen Meter zurück. Der Fuß war deformiert, nicht mehr als ein Stück rohes Fleisch mit brandigen Geschwüren übersät, aus denen grauer Eiter floss. Abby hatte keine Vorstellung davon, welche Krankheit eine derartige Entstellung hervorrufen konnte, aber der Fuß sah aus, als müsse er sofort behandelt, vielleicht sogar amputiert werden.
    Sie würgte den aufkommenden Brechreiz hinunter, beugte sich zu dem Mädchen hinab und hob es auf. Die Kleine ließ es widerstandslos geschehen, lehnte sich mit dem Kopf an ihre Schulter und begann leise ein Lied zu singen. Abby stand einen Augenblick ratlos da. Ihr Verstand weigerte sich einen klaren Gedanken zu fassen, aber dann wandte sie sich um und hinkte zum Empfang zurück. Das Geräusch ihrer Sommersandalen hallte unheimlich von den Wänden des Ganges wieder. Abby hatte das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein, als sie mit dem fremden Kind auf den Armen durch den Flur humpelte.
    Die Frau vom Empfang war nicht mehr hinter dem Tresen. Niemand war da. Verzweifelt blickte sich Abby um. Die Halle lag still und verlassen vor ihr.
    Was soll ich jetzt tun?
    Ohnmachtsgefühle wallten in ihr auf. Sie war auf so etwas nicht vorbereitet. Sollte sie am Empfang warten, bis die Krankenschwester wiederkam oder sollte sie sich auf die Suche nach Hilfe machen. Das Kind begann zu weinen. Sein Schluchzen nahm Abby die Entscheidung ab. Das Mädchen musste medizinisch versorgt werden - sofort!
    Obwohl alles in ihr drängte loszugehen, nahm sie sich die Zeit, tröstende Worte in das Ohr der Kleinen zu flüstern.
    „Alles wird gut. Du wirst es sehen. Wir finden einen Arzt und der hilft dir. Hab keine Angst.“
    Ihr Versuch, das Kind zu beruhigen, schlug fehl. Das Mädchen begann wild zu strampeln und um ein Haar wäre sie ihr aus den Armen geglitten. Abby presste sie noch enger an sich und ging los. Sie war kurz vor einer Panik. Ihr verletzter Fuß fühlte sich an, als sei er zwischen

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