Traumschlange (German Edition)
Ruine, die einmal eine schöne, tropische Stadt gewesen sein musste. Auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel war sie zu erschöpft gewesen, um all das Elend zu realisieren. Abends hatte der Mantel der Nacht seinen sanften Schleier über alles gelegt und das Abendessen in dem französischen Restaurant hatte sie glauben lassen, sich noch immer in der zivilisierten Welt zu befinden. Nun im grellen Tageslicht zeigte Haiti sein wahres Gesicht. Eine Fratze aus Armut, Krankheit und Tod.
Als der Wagen wegen einigen Fußgängern anhalten musste, schlurfte ein alter Mann heran. Er trug einen übergroßen Strohhut und verwaschene Nike-Sporthosen. Ansonsten war er unbekleidet. Seine eingefallene Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, als er sich mit einer Hand auf dem Dach des Wagens abstützte und die andere bittend durch das offene Fahrzeugfenster hereinstreckte. Er murmelte etwas auf Französisch, das Abby nicht verstand.
„Will er Geld?“, wandte sie sich an den Fahrer.
„Ja, aber anders als Sie denken. Er ist ein Geldscheinputzer. Für eine kleine Gebühr reinigt er ihr Geld.“
„Was?“, fragte Abby verblüfft.
„Geldscheinputzer“, wiederholte der Taxifahrer geduldig. „Er putzt Geldscheine. Aber geben Sie ihm nichts. Wir fahren gleich weiter.“
Danach schimpfte Pierre lautstark auf Kreolisch. Der Alte zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und verschwand in der Menge. Mit einem Ruck fuhr das Taxi wieder an.
Sie kamen nur langsam voran. Die Menschenleiber drängten sich immer dichter, überfluteten die Straße. Sobald die Passanten erkannten, dass sich ein Ausländer in dem Taxi befand, stürmten sie heran und streckten Abby bettelnd ihre Hände entgegen. Abby hatte auf Pierres Empfehlung das Seitenfenster hochgekurbelt und die Wagentür von innen verriegelt. Doch die Armut hinter den verschmierten Scheiben wurde dadurch nicht besser, nur irrealer, bis Abby glaubte, sich in einem Traum zu befinden.
Immer wieder rumpelte das Taxi durch mit Regenwasser gefüllte Löcher im Straßenbelag. Schreiend sprangen die Passanten auseinander und versuchten dem schmutzigen, nach Öl, Kot und Urin stinkendem Wasser auszuweichen. Oft gelang ihnen der rettende Sprung nicht rechtzeitig, dann wurden Fäuste in die Luft geschüttelt und dem Taxi Flüche nachgeschleudert.
Ungerührt behielt Pierre das Lenkrad in der rechten Hand, während er mit der linken Hand in monotonen Rhythmus seine brennende Zigarette vom Mund zum Fenster, wo er die Asche hinausschnippte, und zurück zum Mund führte. Er strahlte eine Gleichgültigkeit aus, die Abby mehr erschütterte, als das Elend auf den Straßen. Es waren Landsleute, die da im Unrat wühlten, bettelten und versuchten dem spitzenden Dreck des Taxis auszuweichen, während er sich rücksichtslos seinen Weg bahnte.
Ein kleines Kind lief auf die Straße. Pierre dachte nicht einmal daran, auszuweichen, beschleunigte sogar noch, obwohl er die Gefahr erkannt hatte. Im letzten Augenblick riss ein mütterlicher Arm den Jungen auf die Sicherheit des Gehwegs zurück. Pierre grinste, als er das Geschrei der aufgebrachten Mutter hörte und machte eine obszöne Geste.
„Müssen Sie so rasen?“, herrschte ihn Abby an.
Er schnippte die Kippe aus dem Fenster. „Ich rase nicht. Wenn ich wegen jeder Kleinigkeit anhalte, sind wir morgen noch nicht im Hospital.“
„Sie sagten doch, es wären nur vier Meilen.“
„Madame“, sagte er herablassend. „Vier Meilen können auf Haiti so lang sein wie eine Reise zum Mond.“
6. Zeit und Kraft
Die Frau hinter der Empfangstheke des Krankenhauses blickte Abby verständnislos an. Über ihr feistes, schwarzes Gesicht strömte Schweiß, den sie mit einem aufgeweichten Papiertaschentuch wegwischte. Obwohl im Krankenhaus eine angenehme Temperatur herrschte, wirkte die Schwarze als habe sie einen dreitägigen Wüstenmarsch hinter sich. Auf dem Kragen ihrer weißen Schwesterntracht hatten sich dunkle Flecken gebildet, deren Salzränder, wie das Werk eines Neoimpressionisten wirkte.
Mein Gott, wie kann man nur so fett sein?, dachte Abby.
Nach all der Armut und dem Elend, dem sie auf der Fahrt hierher begegnet war, schien diese Frau von einem anderen Planeten zu stammen. Diese Frau, die sich seit zehn Minuten weigerte auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was Abby ihr erklärte.
„Ich möchte einen Arzt sprechen“, wiederholte Abby ungeduldig. „Doctor. D-O-C-T-O-R.“
Ein Schwall Kreolisch brach über Abby herein. Sie zuckte
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