Traumschlange (German Edition)
ging den Gang hinunter. Immer wieder blieb er kurz stehen, sprach hier ein Wort, drückte dort eine Hand oder befühlte eine heiße Stirn. Inmitten des Durcheinanders wirkte er wie ein Kapitän, der trotz eines heftigen Sturms ruhig sein Schiff auf Kurs hält. Abby kam nicht umhin, ihn zu bewundern. Sie selbst hätte als Mediziner angesichts der Zustände einen Nervenzusammenbruch erlitten. Zehn Minuten verstrichen, dann war der Arzt zurück.
„Bitte kommen Sie in mein Büro. Dort können wir uns unterhalten.“
Abby folgte ihm in einen Seitengang. Hier gab es keine Patienten, die auf eine Behandlung warteten und auch keine Besucher, die mit ihren kranken Familienangehörigen schwatzten. Dafür war der Gang auf beiden Seiten mit Regalen vollgestellt. Dicke Ordner stapelten sich darin. Schriftstücke quollen daraus hervor, als versuchten sie zu fliehen.
„Wie gesagt, der Verwaltungstrakt wird aus Kostengründen geschlossen, dementsprechend beengt geht es bei uns zu.“ Er öffnete eine Tür und bedeutete Abby einzutreten.
Sein Büro war klein und noch überladener als der Gang. Auf dem Schreibtisch stand ein einsamer Computer, dessen Monitor ausgeschaltet war. Auch hier gab es vollgestopfte Regale. Zusätzlich türmten sich auf dem Fußboden weitere Aktenstapel. In dem winzigen Raum roch es nach altem Papier und etwas Undefinierbarem. Abby konnte den Geruch zunächst nicht einordnen, aber schließlich begriff sie, dass der süßliche Gestank von Mottenpulver herrührte.
Es gab nur einen Stuhl. Einen drehbaren Bürostuhl mit dunkelblauer, zerschlissener Auflage, den er Abby heranschob und sie einlud Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf eine Kante des Schreibtischs.
„Ich würde Ihnen gern Kaffee anbieten, aber die Maschine ist hinüber“, lächelte er entschuldigend.
„Danke, ich habe schon im Hotel gefrühstückt.“
„Gut. Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Abby Summers...“
„Oh, Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Jean Mitchard.“ Verlegen streckte er Abby seine Hand entgegen. Sein Griff war fest, ohne unangenehm zu sein.
„Sie sind Arzt hier am Krankenhaus, richtig?“
„Ja.“
Abby öffnete ihre Handtasche und zog die Sterbeurkunde, die man ihr von Haiti aus zugesandt hatte.
„Meine Schwester, Linda Summers, ist vor einer Woche hier im Krankenhaus verstorben.“
Sein Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. „Das tut mir leid.“
„Ich würde gern mit dem behandelnden Arzt sprechen.“ Abby reichte ihm das Dokument. „Der Name steht unten.“
Mitchard nahm das Papier und las es aufmerksam durch. „Die Sterbeurkunde wurde von Dr. Muncine ausgefüllt, meinem Vorgesetzten. Ich habe von dem Fall gehört. Ihre Schwester wurde spät nachts mit hohem Fieber eingeliefert und fiel ins Koma. Sie verstarb, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen.“
„An welcher Krankheit ist sie gestorben?“
„Tut mir leid. Die Ursache ihres Todes konnte nicht geklärt werden.“
„Warum nicht?“
Mitchard fuhr sich zerstreut mit der Hand durchs Haar. „Sehen Sie, Haiti ist ein armes Land. Ein sehr armes Land. Der Staat ist bankrott und überall muss gespart werden. Unsere technischen Geräte sind hoffnungslos veraltet und funktionieren größtenteils nicht. Es gibt kaum Medikamente und das Wenige, das wir noch zur Verfügung haben, stammt aus Spenden ausländischer Organisationen wie dem Roten Kreuz, dem Roten Halbmond und der WHO, aber es reicht bei weitem nicht. Strom gibt es nur wenige Stunden am Tag und oft streikt die Wasserversorgung. Die Belegschaft des Krankenhauses ist hoffnungslos überlastet. Es grenzt an ein Wunder, dass das System noch nicht zusammengebrochen ist, aber wir stehen kurz davor. Wir haben also weder die Mittel noch die Zeit, um uns um die Todesursachen verstorbenen Patienten zu kümmern. Unsere Zeit und Kraft muss den Lebenden gehören. Ich weiß, es klingt hart, aber es ist die tägliche Realität, mit der wir zurechtkommen müssen.“
Abbys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Zorn blitzte darin auf. „Das sind ja schöne Zustände.“
Mitchards Gesichtsausdruck blieb unverändert, nur seine Augen wirkten plötzlich müde und alt. „Weder ich noch irgendein anderer Angestellter dieses Krankenhauses hat in den letzten neun Monaten sein Gehalt bekommen. Wir arbeiten alle, um zu helfen. Die meisten von uns haben noch einen Nebenjob, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Ich fahre nachts Taxi, falls es
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