Traumschlange (German Edition)
einen Schraubstock geraten und die Schmerzen wurden mit jedem Schritt schlimmer.
Station infectieuse , zweiter Stock.
Ja, dorthin würde sie die Kleine bringen. Der Fuß sah infektiös aus und selbst wenn er es nicht war, irgendwo auf der Station würde sie einen Arzt finden.
Sie stolperte die Treppe hinauf. Ihr Herz raste in der Brust. Keuchend erreichte sie den obersten Treppenabsatz. Eine massive Glastür versperrte ihr den Weg. Abby riss sie auf und stand unvermittelt einem Mann gegenüber. Sein weißer Kittel kennzeichnete ihn als Arzt.
Er war noch jung. Vielleicht in ihrem Alter, mit müden Augen, unter denen sich dunkle Ringe abzeichneten. Seine Hautfarbe war ebenso hell wie die des kranken Mädchens. Sein schwarzes Haar war kurz geschoren und wirkte wie die Frisur eines Strafgefangenen. Um seinen Hals hing ein Stethoskop, dessen silbrig glänzendes Ende nach links und rechts baumelte, als er einen Schritt auf sie zumachte.
„Estelle!“, rief er aus. Seine Hände griffen nach vorn, nahmen ihr das Kind aus den Armen. Das Mädchen lächelte und schmiegte sich an seinen Hals. Sie flüsterte etwas in leisem Singsang. Die Antwort war ebenso leise.
„Was ist mit ihr?“, fragte Abby.
„Wo haben Sie Estelle gefunden?“ Sein Englisch hatte einen leichten Akzent. Seine Stimme war weich. Dunkel.
Abby deutete mit der Hand auf die Treppe, die sie hochgekommen war.
„Unten in der Aufnahme.“
Sein Blick folgte ihrer Hand. Dann schüttelte er den Kopf.
„Das ist nicht die Aufnahme. Sie waren im Verwaltungstrakt. Er wird bald stillgelegt. Wahrscheinlich ist Estelle hinunter gegangen, um dort in Ruhe zu spielen. Hier...“ Er wandte demonstrativ den Kopf. „... ist das leider kaum möglich.“
Abby hatte bisher nur Augen für das Mädchen und den Arzt gehabt, als sie sich nun umsah, erkannte sie, was er meinte. Der Gang erstreckte sich scheinbar endlos vor ihr. Neonlicht, aus Fliegendreck verschmierten Glasröhren, flackerte neben Deckenventilatoren, die mühsam gegen die stickige Luft ankämpften. An einer Seite des Ganges standen Betten wie Soldaten beim Morgenappell. Einfache Holzgestelle, in den Patienten auf eine Behandlung warteten oder mit ihrem Besuch plauderten. Über allem lag ein Geruch aus Desinfektionsmitteln und fauligem Obst. Obwohl es hier nicht laut war, schmerzte das Gesumme der Unterhaltungen in ihren Ohren.
„Das ist ja Wahnsinn“, ächzte Abby.
„Nein“, erwiderte der Arzt ruhig. „Alltag.“
Er wollte sich abwenden und gehen, aber Abby zupfte ihn am Ärmel seines Kittels.
„Sie haben mir nicht geantwortet. Was ist mit dem Mädchen?“
Seine Augenbrauen zuckten nach oben. „Sie möchten wissen, an welcher Krankheit das Kind leidet?“
Abby nickte.
„Der lateinische Begriff würde Ihnen nichts sagen. Wir nennen die Krankheit la démocratie . Die Krankheit wird durch kleine Verletzungen hervorgerufen, die sich entzünden. Oft treten die Kinder beim Spielen in rostigen Stacheldraht. Wenn die Wunde nicht sofort behandelt wird, entzündet sie sich in der tropischen Hitze.“
„Sie nennen die Krankheit «Demokratie»?“, fragte Abby.
Sein Lächeln war bitter. „Die Amerikaner haben insgesamt fünf Mal Haiti besetzt, um uns die Demokratie zu bringen. Wenn sie kamen, haben sie als erstes um ihre Camps Stacheldraht ausgerollt. Wenn sie später dann wieder abzogen, blieb von der Hoffnung auf Demokratie nur der Stacheldraht zurück, der heute unsere Kinder verstümmelt.“
„Wird Estelle wieder gesund?“
„Ja, die Wunde sieht schlimmer aus als sie in Wirklichkeit ist. Estelle wickelt sich immer den Verband ab, um nachzusehen, ob ihre Zehen noch da sind und erschreckt damit die Leute. In ein paar Wochen sieht der Fuß wieder ganz normal aus und seine Beweglichkeit bleibt auch erhalten. Sie hat Glück gehabt. Es gibt Kinder mit weniger Glück, denen wir beide Beine amputieren mussten.“
„Das ist ja furchtbar.“
Seine dunklen Augen forschten in ihren. „Sie sind aus England, nicht wahr?“
„Ja, ich...“
„Warten Sie einen Moment“, unterbrach sie der Arzt. „Ich bringe Estelle auf ihr Zimmer.“
Erst jetzt bemerkte Abby, dass das Kind in seinen Armen eingeschlafen war.
Wenn Kinder schlafen, sehen sie wie Engel aus, die Gott uns Menschen auf der Erde zurückgelassen hat.
Wer hatte das gesagt? Abby wusste es nicht mehr, aber als sie Estelle beobachtete, wie sie sich in die Halsbeuge des Mannes schmiegte, spürte sie den Wahrheitsgehalt dieser Worte.
Der Arzt
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