Traumschlange (German Edition)
an die Wirkung dieser Mittel?“
„Ich weiß um ihre Wirkung. Voodoo ist eine sehr alte Religion, die sich seit Jahrhunderten darauf spezialisiert hat, solche Mittel herzustellen. Wissenschaftler haben die Effizienz vieler dieser Heilmittel und Gifte nachgewiesen.“
„Trotzdem, die Toten zu bestehlen...“
„Ich bin nicht damit einverstanden, falls Sie das denken. Aber Sie müssen auch erkennen, in Haiti herrscht eine andere Kultur als in Ihrem Land. Vieles von dem, was in England geschieht, würden die Menschen hier genauso abstoßend empfinden.“
„Es gibt so etwas wie Moral.“
Mitchard lachte bitter. „Moral ist etwas für denjenigen, der es sich leisten kann. Die Armen fragen nicht nach Moral. Ganze Familien in Haiti leben ausschließlich vom Verkauf dieser Knochen. Ohne dieses Einkommen würden sie verhungern.“
Abby wollte dieses Gespräch nicht fortsetzen, es führte zu nichts. „Lassen Sie uns die Totengräber suchen“, schlug sie vor.
Sie fanden nur einen alten Mann, der im Schatten der Friedhofsmauer döste. Als sie auf ihn zuschritten, schlug er die Augen auf.
Mitchard begrüßte ihn auf kreolisch. Der Alte erwiderte seinen Gruß freundlich, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben. Sein Gesicht war von der Sonne in tausend kleine Falten zerschnitten worden, die ein neues Muster bildeten, als er zahnlos grinste.
„Er denkt, wie wollen einen Angehörigen bestatten“, erklärte Jean.
„Sagen Sie ihm, warum wir hier sind.“
Mitchard wandte sich wieder an den Totengräber. Abby verstand kein Wort, aber der Alte begann wild zu schnattern.
„Was sagt er?“, fragte sie ungeduldig.
„Er weiß von einer weißen Frau, die hier vor wenigen Tagen beerdigt wurde.“
Abbys Herz fing an zu rasen. Endlich hatte sie ihre Schwester gefunden.
„Fragen Sie ihn, wo ihr Grab ist.“
Wieder schnatterte der Alte.
„Er sagt, er habe keine Ahnung. Er wäre nicht hier gewesen, als man sie vergrub. Die anderen Totengräber hätten ihm nur von der blanc erzählt.“
Enttäuschung machte sich in Abby breit. Außer dem Alten war niemand auf dem Friedhof, den sie fragen konnten. Morgen früh ging ihr Flug in die Heimat zurück. Sie musste sich entscheiden, ob sie noch in Haiti blieb und auf die vage Hoffnung setzte, dass die anderen Totengräber ihr das Grab ihrer Schwester zeigen konnten. Und es bestand immer noch die Möglichkeit, dass eine andere weiße Frau und nicht Linda in diesem Grab lag.
Jean Mitchard hingegen wirkte regelrecht vergnügt. Zum ersten Mal an diesem Tag sah ihn Abby lächeln.
„Finden Sie das etwa lustig“, schnauzte sie ihn an.
Sein Lächeln blieb unverändert. „Haben Sie Geld bei sich? Am besten amerikanische Dollar.“
Plötzlich begriff Abby. Der Alte wusste doch etwas. Dies war das altbekannte Spiel zwischen Arm und Reich. Der Arme hatte etwas, dass der Reiche, in diesem Fall Informationen, haben wollte und ließ sich dafür bezahlen. Sie zog ihre Handtasche von der Schulter und fischte zehn Dollar heraus.
„Mehr habe ich nicht bei mir“, meinte sie entschuldigend, als sie Mitchard den Schein reichte.
„Es genügt völlig“, sagte der Arzt.
Der alte Totengräber hatte die Szene beobachtet und grinste nun voller Vorfreude. Mitchard hielt ihm den Schein vor die Nase. Der Alte erhob sich augenblicklich. Er klopfte den Staub aus seinen abgetragenen Sachen und marschierte los, ohne ein Wort zu sagen.
Sie folgten ihm durch die langen Reihen der Gräber. Es war wie eine Wanderung durch die Zeit. Verfallene Gräber lösten sich mit frischen Ruhestätten ab. Dort eine umgestürzte, ehemals kunstvoll angefertigte Statue, neben einem neuen schlichten Holzkreuz. An manchen Stellen schien der Pfad direkt über die Gräber hinwegzuführen.
„Warum halten die Totengräber keine Ordnung?“, fragte Abby Mitchard, während sie hinter dem Alten herstapften.
Jean blickte sie traurig an. Abby kannte diesen Blick inzwischen. So sah er sie immer an, wenn er etwas für unabänderlich hielt und darüber resignierte.
„Die Totengräber sind zwar beim Staat angestellt, aber sie bekommen kein festes Gehalt. Sie leben ausschließlich von der Gebühr, die beim Ausheben eines Grabes verlangt wird. Es ist wenig genug. Sie bessern ihr Gehalt dadurch auf, dass sie Grabstellen verkaufen. Die besten Plätze, die im Schatten, kosten dementsprechend viel Geld. Haben die Angehörigen keine finanziellen Mittel, müssen sie mit einem Platz in der Nähe der Mauer vorlieb nehmen. Dort ist
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