Traumschlange (German Edition)
er nicht einmal von ihrer Ankunft in Haiti.“
Abby musste zugeben, dass Mitchard Recht hatte. Die Szene im Restaurant konnte nicht gestellt sein. Zu viele Unwägbarkeiten. Sie selbst hatte sich spontan beim Spazieren gehen dazu entschlossen, noch etwas zu essen. Ihr Aufeinandertreffen musste also tatsächlich ein Zufall gewesen sein. Andererseits war da noch etwas. Etwas, das sie nicht greifen, aber spüren konnte.
„Was bedeutet eigentlich ‚Boune’?“, fragte sie Mitchard.
„Ich weiß nicht. Wie kommen Sie jetzt darauf?“
„Ferre hat dieses Wort mehrfach zu dem Beamten im Gesundheitsministerium gesagt. Er sagte es so eindringlich, dass ich es mir merken konnte. Ich dachte, es wäre französisch.“
„Boule“, sagte Jean plötzlich.
„Ja, genau. So klang es. Es ist also doch französisch.“
„Nein. Creole. Es bedeutet ‚verbrannt’.“
Abby war bleich geworden. Sie konnte spüren, wie sich die Haut über ihrem Gesicht spannte.
„Was haben Sie?“, fragte Mitchard.
„Er hat dem Beamten vorgegeben, was er mir sagen soll. Es war seine Idee zu behaupten, Linda wäre verbrannt worden.“
„Jetzt übertreiben Sie wirklich. Sie sprechen kein Creole. Die beiden haben sich darüber unterhalten, dass Ihre Schwester verbrannt wurde, da ist es klar, dass dieses Wort gefallen ist.“
„Nein, ich bin mir ganz sicher. Ich weiß noch genau, was für einen seltsamen Gesichtsausdruck der Beamte gemacht hat, als Patrick dieses Wort verwendete.“ Abbys Mund wurde zu einem harten Strich. „Außerdem hat er das Wort zweimal wiederholt, um sicherzugehen.“
„Was soll ich dazu sagen?“
Abby stand energisch auf. „Nichts. Lassen Sie uns zum Friedhof fahren. Vielleicht stimmt es ja, was Pater Maddox sagt und die Totengräber kennen die Antworten auf all unsere Fragen.“
Patrick Ferre saß in seinem schwarzen Mercedes und fuhr in Richtung Hauptstadt. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, dadurch war von der draußen herrschenden Hitze im Wageninneren nichts zu spüren. Es waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Die meisten Fahrer machten sofort Platz, wenn sie seinen Mercedes im Rückspiegel entdeckten. Die wenigen, die stur blieben, jagte er durch Aufblenden und brüllendes Hupen zur Seite.
Ferre dachte über das Gespräch mit seinem Stiefvater nach. Selbst nach all den Jahren flößte ihm Castor noch immer Angst ein. Der Alte war grausam. Berechnend grausam. Sollte er sich ihm je in den Weg stellen, würde er vernichtet werden. Daran zweifelte Patrick keine Sekunde.
Die Sache mit Linda Summers war schlimm genug. Patrick hatte nicht gewollt, dass ihr etwas geschah, aber letztendlich war er machtlos gegen das Wirken seines Stiefvaters. Hoffentlich reiste Abby morgen ab. Wenigstens sie sollte verschont bleiben. Abby hatte etwas in seinem Inneren berührt. Er war nicht verliebt in sie, aber ihre offene Art hatte ihn bezaubert. Sie war so anders als ihre Schwester. Linda war eine bildschöne Frau gewesen, klug und gebildet. Der perfekte Geist in einem perfekten Körper, aber genau ihre Perfektion war es gewesen, die ihm eine innere Distanz zu verschaffte. Niemand konnte das Perfekte lieben. Man bestaunte Perfektion, wenn sie man sie traf. Man bewunderte sie, aber niemand verliebte sich in sie. Linda Summers war wie das Bildnis der Mona Lisa gewesen. Ein Kunstwerk, dem man fernblieb, egal, wie weit man sich ihm auch näherte.
Abby war anders. Lebhaft, temperamentvoll, mit vielen Schwächen und keineswegs so schön wie ihre Schwester. Aber sie strahlte Natürlichkeit und Lebensfreude aus und da war noch mehr. Patrick hatte eine Traurigkeit gespürt, die sie umgab, wie ein fein gesponnenes Tuch. Diese Traurigkeit verlieh ihr eine Tiefe, die Linda Summers nie besessen hatte.
Patrick gestand sich stumm ein, dass er die junge Engländerin wirklich mochte. Unter anderen Umständen hätte etwas aus ihnen werden können. Er hatte gespürt, dass auch sie sich zu ihm hingezogen fühlte.
Die Nacht in Les Cayes war wundervoll gewesen. Die Stunden, die sie miteinander getanzt hatten, würde er nie vergessen. Warum nur, hatte er es nicht dabei bewenden lassen? Es war ein Fehler gewesen, mit ihr in den Tempel zu gehen, aber er hatte nichts Böses im Sinn gehabt, sondern wollte ihr nur ein unvergessliches Erlebnis bescheren. An Sex hatte er überhaupt nicht gedacht. Später vielleicht – ja. In ihrem Hotel oder seinem Appartement in der Stadt hätten sie sich stundenlang lieben können, aber dann war er
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