Traumschlange (German Edition)
die Gefahr einer Grabschändung durch Räuber am größten, so versucht jeder, seine Liebsten möglichst nahe am Zentrum des Friedhofs beerdigen zu lassen.“
„Hier liegen so viele menschliche Gebeine herum, warum machen sich Räuber überhaupt die Mühe Gräber aufzubrechen?“
„Bevorzugt werden frische Gräber, quasi jungfräuliche Ruhestätten, an denen noch kein anderer dran war, aber warum es so ist, weiß ich nicht.“
Der Alte blieb stehen. Seine linke Hand deutete auf ein unscheinbares Grab ohne Grabstein. Es war ein schlichter Erdhaufen nahe der westlichen Mauer des Friedhofs.
„Ist es das Grab?“, fragte Abby.
„Ja“, sagte Mitchard, nachdem er mit dem Alten gesprochen hatte.
Die rechte Hand des Totengräbers öffnete und schloss sich fordernd. Mitchard reichte ihm den Geldschein, der mit bemerkenswerter Geschwindigkeit in der Hosentasche des Mannes verschwand.
Abby stand eine Weile in Gedanken versunken vor dem Grab. Mitchard störte ihre Andacht nicht. Schließlich wandte sich Abby um. In ihren Augenwinkeln blitzten Tränen, aber sie blieben ungeweint.
„Fragen Sie ihn, was es mich kostet, wenn er das Grab öffnet?“, sagte sie schließlich.
Jean sah sie erschrocken an.
„Na los, fragen Sie ihn?“, forderte Abby.
Mitchard sprach eindringlich auf den Alten ein, der nach wenigen Worten die Augen weit aufriss und vehement den Kopf schüttelte. Er versuchte weiter, den Mann zu überzeugen, aber der Alte blieb stur und bekreuzigte sich mehrfach.
„Er sagt, er könne das auf keinen Fall tun. Es sei nicht richtig, die Ruhe der Toten zu stören“, erklärte Jean.
Abby lachte heiser auf. „Fragen Sie ihn, ob er sich hier schon einmal umgesehen hat. Die Ruhe der Toten wird laufend gestört.“
„Das habe ich schon getan. Der Alte schwört, er habe mit den Grabschändungen nichts zu tun und verflucht die Menschen, die so etwas tun. Er sagt, lieber verhungern, als heiligen Boden zu entweihen. Ich glaube ihm.“
„Sagen Sie ihm, er kann gehen.“
Der Alte verbeugte sich mehrfach zum Dank und trottete davon.
„Wollen Sie sich, jetzt da Sie wissen, wo Ihre Schwester ruht, wegen einer Exhumierung an die Behörden wenden?“, fragte Jean, nachdem der Totengräber außer Sicht war.
„Nein.“
Mitchard sah die Entschlossenheit in ihren Augen. „O nein, das wollen Sie nicht tun?“
„Doch. Genau das werde ich tun“, beharrte Abby. „Besorgen Sie mir bitte eine Schaufel und eine Hacke. Ich werde selbst nachsehen, wer in diesem Grab liegt.“
Patrick Ferre war dem Renault bis zum Friedhof gefolgt. Nachdem er gesehen hatte, wie die beiden ausstiegen und das Anwesen betraten, hatte er seinen auffälligen Mercedes in der Rue Oswald Durand , direkt hinter dem Stadion abgestellt. Zu Fuß und mit einigem Abstand war er ihnen gefolgt. Er hatte beobachtet, wie sie mit dem Friedhofswärter sprachen und gesehen, dass er sie zu dem Grab geführt hatte, von dem Patrick wusste, dass es sich dabei Linda Summers letzte Ruhestätte handelte.
In dem Moment, in dem er Abby sah, wie sie mit gesenktem Kopf an der Grabstätte ihrer Schwester stand, überkam ihn Mitgefühl, aber dieses Gefühl verschwand sofort wieder, als ihm bewusst wurde, in welchen Schwierigkeiten er nun steckte.
Sie hatten das Grab entdeckt. Abby konnte nun jederzeit zum Gesundheitsamt gehen und die Exhumierung ihrer Schwester verlangen. Allerdings war es fraglich, ob ihr jemand glaubte. Sie hatte keine Beweise dafür, dass in dem Grab ihre Schwester lag. Beamte arbeiteten langsam und umständlich. Es konnten Wochen vergehen, bis die Behörden aktiv wurden und Abby Summers die entsprechende Erlaubnis bekam. Außerdem waren Beamte bestechlich. Abby ahnte es nicht, aber es lagen noch viele Hindernisse vor ihr.
Vielleicht würde sich die junge Engländerin auch damit zufrieden geben, dass sie nun das Grab ihrer Schwester kannte. Patrick hoffte es. Er hoffte, Abby morgen in ein Flugzeug steigen oder abfliegen zu sehen oder alles Mögliche konnte geschehen. Julius Castor war kein Mann, dem man in die Quere kam.
Nur leider wusste das Abby Summers nicht.
Abby und Jean saßen in einem hübschen, etwas abseits liegenden Restaurant in Pétonville. Der Abend war hereingebrochen, mit einer Geschwindigkeit, dass man glauben konnte, Gott habe ein schwarzes Tuch über dieses Land geworfen, um all das Elend zu bedecken. Hier in Pétonville war von der allgemeinen Armut nichts zu spüren. Im Gegenteil. Die Menschen wirkten gut
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