Traumschlange (German Edition)
klar denken. Er zwang sich dazu, sich selbst als Patienten zu sehen und versuchte die Krankheitssymptome zu identifizieren.
Hohes Fieber. Wie hoch, wusste er nicht, er hatte es noch nicht gemessen.
Atembeschwerden.
Erbrechen.
Gift, schoss es durch seinen Kopf. Jemand hat mich vergiftet. Es musste das Zombiemittel sein. Aber wie hatten sie es gemacht? Das Zombiepulver war ein Hautgift. Wie war er damit in Kontakt gekommen?
Sein Blick fiel auf seine geröteten Hände und er kannte die Antwort. Die Mistkerle hatten das Gift in seine Chirurgenhandschuhe gestreut und er hatte sie nichts ahnend übergestreift.
Plötzlich waren auf dem Gang vor seiner Wohnung Stimmen zu hören. Sie kamen, um ihn abzuholen. Seine Gedanken fieberten wild umher.
Atropin!
Es war in seiner Arzttasche, aber die stand auf der Küchenanrichte. Eine Meile entfernt.
Die Stimmen kamen näher. Gleich würden sie da sein. Er kroch wie ein verletztes Tier über den Boden. Aus trüben Augen sah er die schwarze Ledertasche. Er versuchte sich aufzurichten, aber seine Beine gaben unter ihm nach. Mit letzter Kraft streckte er die Hand aus und bekam die Tasche zu fassen.
Jemand rüttelte am Türknopf.
Die Tasche fiel auf den Boden. Jeans Finger tasteten sich hinein, bekamen die Spritze zu fassen. Mit den Zähnen riss er die Plastikfolie herunter und zog das Atropin auf. Er presste den Kolben. Ein feiner Strahl klarer Flüssigkeit spitzte heraus.
Etwas klapperte in seinem Türschloss.
Jean rammte sich die Spritze durch den Stoff seiner Hose in den Oberschenkel und drückte den Kolben nach unten. Er spürte keinen Schmerz, der ihm zeigte, ob er überhaupt den Muskel getroffen hatte.
Ein weiterer Gedanke jagte durch sein Gehirn. Sie durften die Spritze nicht finden. Stöhnend schleuderte er sie unter das Bett.
Dann hörte sein Herz auf zu schlagen.
Abby hatte ihr Abendessen im Hotelrestaurant eingenommen und saß jetzt an der Bar vor einem Martini. Richard Morse reichte ihr eine Schale mit gesalzenen Erdnüssen, die sie unbeachtet ließ. Ihre Gedanken waren bei Jean Mitchard. Sie machte sich Sorgen um ihn. Jean hatte bei ihrem letzten Treffen wirklich nicht gut ausgesehen, aber sie hoffte, es war nichts Ernstes.
Morse nahm sich ein blütenweißes Geschirrtuch und begann die Gläser vom Staub des Tages zu befreien. Abby Summers war der einzige Gast an der Bar und auch im Restaurant hielt sich niemand auf. Es waren beschissene Zeiten.
„Bleiben Sie noch lange auf Haiti“, begann er ein Gespräch mit ihr.
Sie blickte von ihrem Drink auf. „Noch eine Weile. Warum fragen Sie?“
„Das Radio meldet einen schweren Sturm für morgen. Ein Orkan braut sich über dem Meer zusammen und erreicht bald die Insel. Der Flughafen wird dann geschlossen sein.“
„Sie meinen, es wird so schlimm?“
„O ja. Diese Stürme sind zwar selten, aber wenn sie kommen, lassen sie einen Ort der Verwüstung zurück.“
„Wie bereiten Sie sich darauf vor?“, fragte Abby neugierig.
Er zuckte die Schultern, als wolle er sagen, es liegt alles in Gottes Hand.
„Möchten Sie noch einen Martini?“ Sein Blick ruhte auf ihrem leeren Glas.
Abby überlegte einen Moment. Es war noch früh am Abend und sie hatte keine Lust zu Bett zu gehen.
„Ja, machen Sie mir noch einen.“
Morse stellte ihr Glas in die Spüle, zog ein neues aus der Halterung über der Bar und mixte einen weiteren Martini. Mit einer eleganten Bewegung stellte er das Glas vor Abby ab.
„Sie machen das wirklich gut“, stellte Abby anerkennend fest.
„Habe ich in New Orleans gelernt. Obwohl man dort kaum Martini trinkt.“
„Was wird da getrunken?“
„Hauptsächlich Whisky. Bourbon.“
„Hat Ihnen Ihre Zeit in den USA gefallen?“
„Ja, sehr... obwohl es ganz anders ist.“ Seine Augen hatten einen merkwürdigen Ausdruck. „Jeden Tag sterben in New Orleans zwanzig bis dreißig Menschen durch Gewaltverbrechen, trotzdem sind alle voll Lebensfreude und haben gute Laune. In Haiti gibt es ebenso viele Morde, aber über dem ganzen Land liegt eine Stimmung, als wären es nicht zwanzig, sondern zwanzigtausend Tote täglich. Die Menschen glauben nicht mehr an die Zukunft.“
„Wundert Sie das?“
„Ehrlich gesagt, ja. Selbst zu den Zeiten eines Papa Doc waren die Leute fröhlicher, haben gesungen und auf der Strasse getanzt, aber seit Jean-Bertrand Aristide unser Präsident ist und es sich herausgestellt hat, dass ihn kaum etwas von seinen Vorgängern unterscheidet, sind die Menschen
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