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Traumschlange (German Edition)

Traumschlange (German Edition)

Titel: Traumschlange (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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der im anderen Garten stand und bösartig knurrte, sobald sie den Zaun berührte.
    Mr. Garuther, der Besitzer des Deutschen Schäferhundes, war nirgends zu sehen, und ihr Ball lag auf dem Grundstück. Ein leuchtend roter Fleck. Er wirkte deplaziert zwischen all dem Grün, so als sei er direkt vom Himmel auf einen fremden Planten gefallen.
    Linda hatte ihr den Ball zu heftig zugeworfen. Abby hatte keine Chance gehabt, ihn zu fangen. Nun lag der Ball auf der anderen Seite des Zaunes, bewacht von einem knurrenden Monster.
    „Ich werde ihn holen“, erklärte Abby bestimmt.
    Linda stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Ihr Mund klappte auf. Panik verzerrte die hübschen Züge.
    „Bitte nicht. Lass uns warten bis Mr. Garuther wiederkommt. Er kann ihn uns herüberwerfen.“
    Die acht Jahre alte Abby schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte Angst vor dem Hund. Die Angst ließ sogar ihre Knie zittern, aber das würde sie vor Linda nicht zugeben. Sie wollte Lindas Respekt erringen und dies war eine perfekte Gelegenheit.
    Linda gelang immer alles. Sie war eine hervorragende Schülerin, hatte jede Menge interessante Freundinnen und wurde von ihren Lehrern aufmerksam behandelt. Abby hingegen erreichte nur mittelmäßige Leistungen in der Schule. Außer Linda hatte sie keine Freundin und sie hielt sich für tollpatschig und hässlich. Das kleine Entlein neben dem schönen Schwan.
    Sobald Linda ein Zimmer betrat, widmeten sich ihr alle Anwesenden. Ob Kinder oder Erwachsene, alle erlagen ihrem Charme. Abby liebte ihre Schwester, aber sie beneidete sie insgeheim und hoffte, eines Tages genauso bewundert werden zu würden.
    Dieser Tag war noch fern, das wusste sie, aber heute war eine Gelegenheit, das Machtverhältnis ein wenig zu ihren Gunsten zu verändern.
    Linda würde es niemals wagen, über den Zaun zu klettern.
    Ohne ein weiteres Wort trat Abby an den Zaun und legte beide Hände auf die Holzlatten. Der Hund schlich lauernd heran und verharrte zwei Meter entfernt von ihr. Sein Knurren hatte den Klang eines fernen Gewitters angenommen. Abby hatte mehr Angst als jemals zuvor in ihrem Leben.
    Sie atmete tief aus und zog sich hoch. Als sie ihren Fuß auf die Querstrebe setzen wollte, rutschte sie ab und fiel auf die andere Seite des Zaunes.
    Das Letzte was sie hörte, war Lindas gellender Schrei, dann war der Hund wie ein fliegender Schatten über ihr.
     
     
    Abbys Gedanken kehrten in die Realität zurück. Das Jucken der alten Narbe an ihrer rechten Wade erinnerte sie daran, dass sie damals Glück gehabt hatte. Mr. Garuther war aus dem Haus gerannt, nachdem er Lindas Schrei hörte und hatte den rasenden Hund weggerissen. Die Bisswunden waren tief gewesen, aber Abby hatte Lindas Respekt gewonnen. Letztendlich zählte nichts anderes. Wunden heilten.
    Abby strich sich geistesabwesend durch das Haar. Ihr Blick senkte sich, die Sterne verschwanden aus ihrem Sichtfeld.
    Nun war Linda tot.
    Abby drängte das Selbstmitleid zur Seite und ging ins Zimmer zurück. Im Bad wusch sie erneut das Gesicht, schminkte sich und ging zur Rezeption hinunter.
    Richard Morse blickte von seiner Zeitung auf, als er Abby auf sich zukommen sah.
    „Guten Abend“, sagte er mit dunkler Stimme.
    Abby erwiderte seine Begrüßung und sagte: „Sie sprechen hervorragend Englisch.“
    „Danke. Mein Vater war Amerikaner. Ein Weißer. Ich habe lange Zeit in New York gelebt.“
    „Und Ihre Mutter stammt von hier?“
    „Ja, sie ist eine berühmte haitianische Tänzerin.“
    „Wann sind Sie zurückgekommen?“
    „Eigentlich bin ich Musiker. Ich spiele „Racine“. In Amerika kann man davon nicht leben. Dort wollen Sie Jazz hören. Da unser Familienbesitz, das Oloffson, leer stand und immer mehr verfiel, bin ich 1985 zurückgekehrt, um zu retten, was noch zu retten ist.“
    „Sie haben es sehr gut hinbekommen“, lobte Abby.
    Richard Morses Gesicht verzog sich zu einem breiten Lachen, dass sowohl Freude wie auch Schmerz beinhaltete.
    „Danke, aber es gibt noch viel zu tun. Im Augenblick habe ich nicht die Mittel, um nach dem Hauptflügel auch die Nebenflügel herzurichten. Seit einiger Zeit kommen kaum noch Touristen nach Haiti. Zuviel Gewalt. Zuviel Armut.“
    Abby nickte, was hätte sie darauf auch antworten können.
    „Ich möchte ausgehen. Können Sie mir ein Restaurant empfehlen?“
    „Nachts sollten Sie auf keinen Fall nach Port-au-Prince gehen. Im Hafenviertel gibt es zwar das „Le Lambi“, wo man einen hervorragenden Barbancourt-Rum serviert

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