Traumschlange
streckte einen Arm aus und klopfte ihr ungeschickt auf die Schulter.
»Es wird schon alles gut. Ich weiß es. Was kann ich machen, damit du nicht so traurig bist?«
Schlange entließ ihren Atem mit einem gedehnten Seufzer. Sie hob den Blick. Melissa sah sie stetig an, ohne mit der Wimper zu zucken. Schlange drehte sich seitwärts und küßte Melissas Händchen, umfaßte es mit ihrer Hand.
»Du schenkst mir Vertrauen«, sagte sie. »Vielleicht ist es das, was ich jetzt am meisten brauche.» Melissa lächelte, teils aus Verlegenheit, teils um Schlange noch mehr zu ermutigen, und sie lenkten ihre Pferde weiter; aber nach einigen Schritten hielt Schlange die Stute erneut an. Auch Melissa zügelte wieder das Pony und musterte sie sorgenvoll.
»Was auch geschehen mag«, sagte Schlange, »welche Entscheidung meine Lehrer auch über mich fällen werden, du wirst unverändert so gut ihre Tochter wie die meine sein. Du kannst nichtsdestotrotz Heilerin werden. Falls ich fortgehen muß...«
»Dann gehe ich mit dir.«
»Melissa...«
»Es wäre mir egal. Ursprünglich wollte ich ja keine Heilerin werden.« Melissas Stimme besaß einen kämpferischen Klang. »Ich wollte Jockei werden. Ich bleibe nirgends, wo die Leute dich nicht haben wollen.«
Das Ausmaß von Melissas Anhänglichkeit bereitete Schlange Sorgen. Sie hatte noch nie jemanden gekannt, der so vollständig von jeder Wahrung der eigenen Interessen absah. Vielleicht vermochte Melissa sich selbst noch nicht als eine Person mit einem Recht auf eigene Träume vorzustellen; vielleicht hatte man ihr schon so viele Träume zerstört, daß sie nicht länger welche zu hegen wagte. Schlange hoffte, daß es ihr irgendwie gelang, ihrer Tochter die Fähigkeit zum Träumen zurückzugeben.
»Lassen wir das vorerst«, sagte sie. »Noch sind wir nicht daheim. Wir können uns damit befassen, wenn wir dort sind.«
Melissas Miene der Entschlossenheit glättete sich ein wenig, und sie ritten weiter.
Am Ende des dritten Tages waren all die zierlichen Pflanzen unter den Hufen der Pferde verwelkt. Feiner brauner Dunst lag über der Wüste. Gelegentlich wehte ein Gespinst fedrigen Samens vorüber, willenlose Beute des Windes.
Wenn der Wind kräftiger blies, fegte er auch schwerere Samenkapseln durch den Sand, ließ sie reihenweise dahinschlittern. Als die Dunkelheit herabsank, befanden sich Schlange und Melissa bereits zu Füßen der Berge, und hinter ihnen war der Wüstensand wieder kahl und schwarz. Bei der Rückkehr zu den Bergen waren sie geradewegs nach Westen geritten, weil das die kürzeste Strecke war, um schnellstmöglich wieder sichere Gefilde zu erreichen. Hier stieg das Vorgebirgsland weniger steil an als im Norden bei Berghausen; der Aufstieg war leichter, beanspruchte jedoch erheblich längere Zeit als über den Nordpaß. Auf dem ersten Hügelkamm, bevor sie die nächsten, höheren Hügel zu ersteigen begannen, zügelte Melissa ihr Pony und wendete es, blickte rückwärts über die von neuem verfinsterte Wüste aus. Nach einem Moment lächelte sie Schlange zu.
»Wir haben es geschafft«, sagte sie.
Langsam erwiderte Schlange das Lächeln.
»Du hast recht«, sagte sie. »Wir haben‘s geschafft.«
Ihre brennendste Furcht, die vor den Stürmen, verflüchtigte sich allmählich in der kühlen, klaren Bergluft. Die Wolken hingen bedrückend niedrig und schufen ein Zerrbild des Himmels. Bis zum nächsten Frühling würde niemand, weder Bergbewohner noch Karawanser, ein Fleckchen Blau, einen Stern oder den Mond sehen, und die Sonnenscheibe würde immer schwächer scheinen.
Gegenwärtig versank sie hinter den Gipfeln und warf Schlanges Schatten zurück in die Richtung der wieder schwarzen, öden Ebene aus Sand. Nun außerhalb der Reichweite selbst der wütendsten Winde, nunmehr der Hitze und der wasserlosen Sandödnis entronnen, trieb Schlange ihre Stute an, hinauf in die Berge, wohin sie alle gehörten. Auf dem weiteren Weg hielt sie Umschau nach einem geeigneten Lagerplatz. Noch bevor die Pferde hangabwärts eine größere Strecke zurückgelegt hatten, vernahm sie das ersehnte Plätschern eines Rinnsals.
Der Pfad führte an einer flachen Mulde vorbei, in der eine Quelle entsprang; die Stelle sah aus, als wäre sie früher häufiger als Lagerplatz benutzt worden, aber in letzter Zeit nicht mehr. Das Wasser nährte ein paar schäbige Allzeitbäume und ein bißchen Gras, über das sich nun sofort die Pferde hermachten. Im Mittelpunkt einer plattgestampften Fläche
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