Traumschlange
Aufwärtsrichtung. Nahe der Quelle legte sie den Wasserschlauch beiseiteund erklomm einen gewaltigen Findling, von dem aus sie einen Überblick über einen großen Teil der Umgebung erhielt. Es war sonst nichts und niemand in Sichtweite, keine Pferde, keine Lager, kein Rauch. Schlange war beinahe zu glauben bereit, daß der Verrückte fort war oder daß es ihn in Wirklichkeit niemals gegeben hatte oder daß der Zufall sie kurz nacheinander mit einem tatsächlich Verrückten und einem ebenso mißratenen wie unfähigen Dieb zusammenführte. Und sollte es sich doch um ein und dieselbe Person gehandelt haben – seit jener Auseinandersetzung auf einer Straße Berghausens hatten sich von ihm keine Anzeichen bemerken lassen. Das war noch nicht so lange her wie es schien, aber vielleicht lange genug.
Schlange kletterte wieder hinunter zur Quelle und drückte den Schlauch unterden silbrigen Wasserspiegel. Wasser gurgelte und blubberte in die Öffnung, quirlte rasch und kühl über ihre Hände, zwischen ihren Fingern hindurch. In den Bergen schien das Wasser ein völlig andersartiges Wesen zu besitzen. Der Wasserschlauch füllte sich, wölbte sich prall. Schlange verschnürte den Zipfel an der Ecke mit derÖffnung und warf sich den Schlauch am Riemen über ihre Schulter.
Melissa war noch nicht wieder am Lagerplatz. Für ein Weilchen beschäftigte sich Schlange, stellte eine Mahlzeit aus Trockenvorräten zusammen, die nicht anders als zuvor aussahen, wenn sie durchfeuchtet waren, und auch nicht anders schmeckten, wenn man sie gekocht hatte, aber sie ließen sich dann leichter kauen.
Sie entrollte die Decken und breitete sie aus. Sie öffnete die Schlangenschachtel, aber Dunst blieb in ihrem Fach. Nach langen Reisen blieb die Kobra oft im Dunkeln, und wenn man sie störte, verschlechterte sich ihre Laune.
Schlange empfand Unbehagen, weil sich Melissa außer Sichtweite befand. Ihr Mißbehagen wich auch nicht dadurch, als sie sich selbst versicherte, daß Melissa zäh war und selbständig. Statt Sands Fach zu öffnen oder nach der Sandnatter zu sehen – an der sie wenig Freude hatte –‚ verschloß sie den Kasten und richtete sich auf, um nach ihrer Tochter zu rufen.
Plötzlich scheuten Wind und Eichhörnchen und schnoben furchtsam, Melissa schrie im Tone des Entsetzens: »Schlange! Vorsicht!«, und am Hang polterten Sand und Steine abwärts. Schlange lief in die Richtung, woher der Lärm kam, das Messer an ihrem Gürtel halb gezogen.
Sie umrundete einen Felsbrocken und schlitterte noch ein Stückchen durch den Sand, ehe sie zum Stehen kam. Melissa zappelte heftig in der Umklammerung einer hochgewachsenen, knochig-dürren Gestalt in einer Wüstenrobe. Mit einer Hand verschloß der Fremde ihr den Mund, mit dem anderen Arm drückte er ihr die Arme an den Körper. Sie bäumte sich auf und trat nach ihm, aber der Mann ließ sich weder Zeichen von Schmerz noch Wut anmerken.
»Sag ihr, sie soll damit aufhören«, wandte er sich an Schlange. »Ich will ihr nichts tun.« Er sprach schwerfällig und lallte, als befinde er sich in einem Rauschzustand. Seine Robe war verschmutzt und zerfleddert, sein Haupthaar ungepflegt und wirr. Seine Augäpfel wirkten heller als das blutunterlaufene Weiß seiner Augen und verliehen ihm einen leeren, nichtmenschlichen Blick. Sofort erkannte Schlange in diesem Mann den Verrückten, noch bevor sie an seiner Hand den Ring sah, der ihr die Stirn, aufgeschlitzt hatte, als er sie in Berghausen überfiel.
»Laß sie los.«
»Wir handeln«, sagte er. »Wir machen einen angemessenen Handel.«
»Wir besitzen wenig, aber du sollst es haben. Was willst du?«
»Die Traumschlange«, sagte er. »Sonst nichts.«
Melissa leistete erneut Widerstand, und der Mann packte sie fester und roher.
»Einverstanden«, erwiderte Schlange. »Ich habe keine Wahl, oder? Sie ist in meiner Schachtel.«
Er folgte ihr mit Melissa zum Lagerplatz. Das alte Geheimnis war geklärt, ein neues Rätsel stellte sich. Schlange wies auf die Schachtel. »Das obere Fach«, sagte sie.
Der Verrückte näherte sich der Schachtel im Krebsgang und zerrte Melissa umständlich mit sich. Er langte nach dem Schnappschloß, dann zückte seine Hand zurück. Er bebte.
»Öffne du sie«, sagte er zu Melissa. »Für dich ist es ungefährlich.«
Ohne Schlange anzusehen, streckte Melissa eine Hand aus. Sie war totenblaß.
»Halt«, sagte Schlange. »Das Fach ist leer.«
Melissa ließ die Hand an ihre Seite fallen und sah Schlange in einer
Weitere Kostenlose Bücher