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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Schlange kratzte ihn hinter den Ohren und unter dem Kinn; dann blickte sie zum ersten Mal seit ungefähr einer halben Stunde wieder über die Wüste aus. In der Richtung, aus der die Wolken gekommen waren, begann bereits ein helles, zartes Grün die flachen schwarzen Hügel zu beleben. Die Wüstenpflanzen grünten so rasch, daß Schlange meinte, sie könne die Grünfläche im Gefolge des Regens wie eine sanfte Flut vorrücken sehen.
     

10
    Widerwillig zwang sich Schlange zu der Einsicht, daß sie nicht länger am Zentrum bleiben konnte. Es war ganz einfach zu gefährlich, Zeit auf die Erkundung der Höhlen im Berg zu verwenden, obwohl sie außerordentlich starkes Interesse daran verspürte. Möglicherweise führten die Hohlräume letztendlich in die Stadt, aber ebenso bestand die Möglichkeit, daß sie und Melissa sich in einem Netz kahler steinerner Stollen hoffnungslos verirrten. Der Regen bot eine einzigartige Gelegenheit zur Umkehr; wenn Schlange sie nicht wahrnahm, würden sie und ihre Tochter, die Pferde und die Schlangen keine zweite Chance erhalten.
    Irgendwie empfand Schlange es als ungerecht, daß die Rückkehr in die Berge so mühelos verlief wie ein Ausflug durch saftiges Weideland. Denn genau das war es, in das die Wüste sich nach einem Regenfall verwandelte. Den ganzen Tag hindurch konnten die Pferde im Dahinstreben schmackhafte Blätter abrupfen, während ihre Reiter große Sträuße von Honigglocken pflückten und aus den Stengeln der Blumen süßen Saft saugten. Schwer trieb Blütenstaub durch die Luft.
    Schlange und Melissa wanderten, indem sie die Pferde an ihren Zügeln führten, bis spät in die Nacht hinein, bis die Nordlichter gaukelten; die Wüste leuchtete geisterhaft, und weder die Pferde noch die Menschen schienen zu ermüden. Schlange und Melissa aßen in unregelmäßigen Abständen, kauten Trockenfrüchte oder Dörrfleisch, während sie dahinzogen; erst kurz vor der Morgendämmerung warfen sie sich in das weiche, saftige Gras, das dort wuchs, wo sich nur Stunden vorher nackter Sand befunden hatte. Sie schliefen eine Zeitlang und erwachten beim Sonnenaufgang neu gestärkt. Die Pflanzen, auf denen sie geruht hatten, waren noch im Knospen begriffen. Am Nachmittag bedeckten Blumen die Dünen als farbenfrohe Teppiche, ein Hügel weiß, eine Erhebung in hellem Purpur, eine dritte Höhe bunt in Streifen verschiedener Pflanzenarten, die von unten bis hinauf zur Kuppe blühten. Die Blumen mäßigten die Hitze, und der Himmel war klarer, als Schlange ihn jemals gesehen hatte. Infolge des Regens waren sogar die Konturen der Dünen verändert, von sanft gewellten Wogen waren sie zu scharfrandigen, zerklüfteten Hügelkämmen geworden, voneinander getrennt durch die schmalen Rinnsale.
    Am dritten Morgen begannen sich wieder Staubwolken zu erheben. Der Regen war restlos versickert oder wieder verdunstet; die Pflanzen hatten aufgesaugt, soviel sie konnten. Nun sprenkelte zurückgekehrte Dürre die Blätter mit braunen Flecken, die Pflanzen schrumpften und starben ab. Böen trieben ihre Samen über Schlanges Weg. Der weitherzige Friede der Wüste lag um ihre Schultern wie ein Mantel, aber voraus ragten die östlichen Ausläufer der Mittelgebirgskette auf, erinnerten sie von neuem an ihr Versagen. Sie verspürte Widerwillen gegen die Heimkehr. Wind mußte eine unbewußte Regung von Schlanges Körper, irgendeinen Ausdruck ihrer Abneigung gegen die Fortsetzung des Ritts gespürt haben, denn die Stute blieb urplötzlich stehen. Schlange trieb sie nicht weiter vorwärts. Ein paar Schritte vor ihr zügelte Melissa ihr Pony und blickte sich um.
    »Schlange?«
    »Ach, Melissa, in was bringe ich dich jetzt bloß wieder hinein?«
    »Wir gehen nach Hause«, sagte Melissa, um sie aufzumuntern.
    »Vielleicht werde ich gar nicht länger ein Zuhause haben.«
    »Man wird dich nicht fortschicken. Das kann man doch nicht so einfach tun.«
    Schlange wischte sich mit dem Ärmel Tränen aus dem Gesicht, fuhr sich mit dem seidigen Stoff über die Wangen. Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung erlaubten ihr weder Zuversicht noch Trost. Sie beugte sich über Winds Nacken und grub die Fäuste in die lange schwarze Mähne der Stute.
    »Du hast gesagt, dort sei dein Zuhause, und alle gehörten zu deiner Familie. Wieso sollten sie dich dann ganz einfach wegschicken?«
    »Das würden sie nicht tun«, sagte Schlange leise. »Aber wenn sie mir sagen, ich kann nicht länger Heilerin sein – wie könnte ich dann bleiben?«
    Melissa

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