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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Mischung von Erleichterung und Furcht an.
    »Laß sie los«, wiederholte Schlange. »Wenn du die Traumschlange haben willst, muß ich dich enttäuschen. Sie fand den Tod, noch bevor du erstmals mein Lager gesehen hast.«
    Aus verengten Lidern starrte er sie an, dann drehte er sich zur Seite und griff nach der Schlangenschachtel. Er öffnete sie und kippte die ganze Schachtel um. Die groteske Sandnatter rutschte aus dem oberen Fach, wand sich und zischte. Im ersten Moment reckte sie den Kopf empor, als wolle sie zur Vergeltung für die erlittene Gefangenschaft zubeißen, aber sowohl der Verrückte wie auch Melissa standen zu ihrem Glück reglos wie zu Stein erstarrt. Die Natter warf sich herum und kroch hinüber zu den Felsen. Schlange sprang vorwärts und riß Melissa aus der Reichweite des Verrückten, aber er schien es gar nicht zu bemerken.
    »Mich hereinzulegen!« Plötzlich lachte er hysterisch auf und streckte die Arme himmelwärts. »Die hätte mir verpaßt, was ich brauche!«
    Er lachte und weinte zugleich, Tränen rannen ihm übers Gesicht, und dann sackte er zusammen. Schlange lief zwischen die Felsen, aber die Sandnatter war bereits verschwunden. Mit finsterer Miene, die Hand am Messergriff, trat sie zu dem Verrückten. In der Wüste waren die Sandnattern selten genug; in den Bergen gab es gar keine. Nun konnte sie kein Gegengift für Arevins Stamm herstellen, und ihren Lehrern hatte sie überhaupt nichts vorzuzeigen.
    »Steh auf«, sagte sie. Ihre Stimme klang schroff. Sie sah Melissa an. »Bist du unverletzt?«
    »Ja«, sagte Melissa. »Aber er hat die Schlange freigelassen.«
    Der Verrückte blieb schlaff am Erdboden kauern und weinte lautlos.
    »Was ist mit ihm?«
    Melissa trat an Schlanges Seite und betrachtete den Mann, der haltlos schluchzte.
    »Keine Ahnung.«
    Schlange versetzte ihm einen leichten Tritt in die Rippen. »Du da, laß das jetzt und steh auf.«
    Der Mann zu ihren Füßen rührte sich schwach. Seine Handgelenke ragten auszerfransten Ärmeln; die Arme und Hände glichen kahlen Zweigen.
    »Ihm hätte ich entwischen müssen«, meinte Melissa voller Widerwillen.
    »Er ist stärker als er aussieht«, sagte Schlange. »Um der Götter willen, Mann, hör endlich auf mit dem Gewinsel. Wir wollen dir gar nichts tun.«
    »Ich bin tot«, flüsterte er. »Ihr seid meine letzte Hoffnung gewesen. Jetzt bin ich tot.«
    »Letzte Hoffnung auf was?«
    »Auf Glück.«
    »Das ist eine miese Art von Glück, die dich dazu bringt, anderer Leute Sachen zu verderben und sie zu überfallen«, sagte Melissa.
    Er schaute zu ihnen hoch; die Tränen hatten sein Totenschädelgesicht mit Streifen durchzogen.
    »Warum seid ihr umgekehrt? Ich konnte euch nicht weiter folgen. Ich wollte heim und sterben, falls man mir dies gewährte. Aber ihr seid zurückgekommen. Mir direkt in die Arme.«
    Er vergrub das Gesicht in den zerknitterten Ärmeln seiner Wüstenrobe. Er hatte sein Kopftuch verloren. Sein Haupthaar war braun und trocken. Er schluchzte nicht länger, aber seine Schultern zuckten. Schlange kniete sich hin und veranlaßte ihn mit Nachdruck zum Aufstehen. Sie mußte sein Gewicht fast allein emporstemmen. Einen Moment lang stand Melissa unentschlossen dabei, dann hob sie die Schultern und half Schlange. Auf einmal spürte Schlange unter der Kleidung des Verrückten einen harten, viereckigen Gegenstand. Sie riß ihn herum, teilte seine Robe, tastete sich durch Schichten schmuddliger Stoffe.
    »Was treibst du? Aufhören!«
    Er setzte sich zur Wehr, fuchtelte mit seinen stockdürren Armen, versuchte seine Kleidung über seinen klapprigen Körper zu zerren. Schlange ertastete die Innentasche. Sobald ihre Finger den verborgenen Gegenstand berührten, wußte sie, daß es sich um ihr Berichtsbuch handelte. Sie brachte es an sich und ließ den Verrückten los. Er trat um ein oder zwei Schritte zurück, glättete hastig und zittrig seine Kleidungsstücke. Schlange beachtete ihn nicht; ihre Hände umklammerten fest die dikke Kladde.
    »Was ist das?« fragte Melissa.
    »Das Berichtsbuch meines Probejahres. Er hat es aus meinem Lager gestohlen, als er es verwüstete.«
    »Ich wollte es fortwerfen«, sagte der Verrückte. »Ich habe bloß vergessen, daß ich es noch besaß.« Schlange musterte ihn. »Ich dachte, es könne mir helfen. Es hat mir kein bißchen geholfen.« Schlange seufzte.
    Schlange und Melissa streckten den Verrückten am Lagerplatz auf den Untergrund hin, stützten seinen Kopf auf einen Sattel, und er lag ruhig,

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