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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Betätigung erwarten durfte, nicht einmal soviel, daß sie über eisbereiften Felsboden kröchen. Vielleicht hatte North sie, um sie vor der Kälte zu schützen, an einen wärmeren Ort befördert. Während sie noch hoffte, sich in dieser Annahme nicht zu irren, hörte sie das leise Scharren von Schuppen auf Stein. Mindestens eines der Geschöpfe war zurückgeblieben. Das tröstete sie ein bißchen, denn es bedeutete: sie war nicht völlig allein. Dies muß ein zähes Tier sein, dachte sie. Möglicherweise war es jenes große Exemplar, das sie gebissen hatte, groß genug, um sich ein bestimmtes Maß an Körperwärme zu bewahren.
    Sie öffnete die Augen und unternahm den Versuch, in die Richtung, woher das Geräusch kam, zu tasten. Aber bevor sich ihre Hand bewegte – falls sie sich noch bewegen ließ –‚ sah sie die Schlangen. Denn es waren viel mehr als nur eine zurückgeblieben. Nur eine Armlänge entfernt wanden sich zwei, nein, drei Traum-schlangen umeinander. Keine davon war jenes große Exemplar; keine war größer, als Gras gewesen war. Sie wanden und umschlangen sich, zeichneten dunkle Hieroglyphen in den Rauhreif, die Schlange nicht begriff. Die Zeichen besaßen eine Bedeutung, dessen war sie sich sicher, und sie mußte sie entziffern.
    In ihrem Blickfeld befand sich nur ein Teil der Botschaft, daher drehte sie schwerfällig langsam den Kopf, um den weiteren Verlauf der Spuren zu begutachten. Die Traumschlangen blieben am Rand ihres Blickfelds, sie neben sich aneinander, ihre Leiber formten dreistrangige Schneckenhäuser. Die Schlangen froren und starben, befand Schlange. Das mußte es sein. Irgendwie hatte sie North zu verständigen, damit er sie rettete. Schlange stemmte sich auf die Ellbogen hoch, aber mehr schaffte sie nicht. Sie strengte sich an, versuchte zu rufen, aber eine Wogeder Übelkeit überrollte sie. North und seine Kreaturen... Schlange würgte, doch in ihrem Magen war nichts, um herauf zukommen und sie von ihrem Abscheu zu erleichtern. Das Schlangengift wirkte noch. Das Stechen des Schmerzes war von einem dumpfen, schmerzhaften Pochen abgelöst. Sie verdrängte es, zwang es immer weiter aus ihrer bewußten Wahrnehmung, aber am Ende reichten ihre Kräfte nicht aus. Die Mattigkeit überwältigte sie, und sie verlor erneut das Bewußtsein.
    Als sie erwachte, geschah es nicht aus der Besinnungslosigkeit, sondern aus festem Schlaf. Alle ihre verschiedenen Schmerzen waren noch spürbar, aber sobald sie einen nach dem anderen aus ihrem Bewußtsein gezwungen hatte, ohne daß sie wiederkehrten, wußte sie, daß sie Siegerin geblieben war. Noch immer war sie frei, North vermochte sie mit seinen Traumschlangen nicht zur Sklavin zu erniedrigen. Der Verrückte hatte einen Zustand der Verzückung beschrieben; also wirkte das Traumschlangengift auf Schlange nicht so wie auf Norths Anhänger.
    Sie wußte nicht, ob das an ihren Abwehrkräften oder ihrer Willensstärke lag. Es war auch nicht so wichtig. Nun begriff sie auch, warum North so davon überzeugt gewesen war, Melissa werde nicht erfrieren. Noch herrschte Kälte, und Schlange spürte sie, doch innerlich war sie fiebrig warm. Wie lange ihr Körper den aufgepeitschten Metabolismus unterhalten konnte, wußte sie nicht, aber sie fühlte ihr Blut rege durch den Kreislauf wummern, und nun war ihr klar, daß sie keine Frostbeulen zu befürchten hatte. Sie erinnerte sich an die Traumschlangen und ihre eigentlich völlig ausgeschlossene Regsamkeit auf dem vom Frost diamantenhaft bereiften Untergrund. Das muß alles ein Traum gewesen sein, dachte sie.
    Aber als sie umherschaute, sah sie zwischen den dunklen Hieroglyphen ihrer Spuren eine Dreierschaft Traumschlangen ineinander verschlungen. Sie bemerkte eine zweite und dann eine dritte Dreierschaft, und schließlich verstand sie in tiefem Erstaunen und höchster Freude die Botschaft, die dieser Ort und seine Geschöpfe ihr zu sagen hatten. Es schien, als sei sie hier Stellvertreterin aller Generationen von Heilern, allein zu dem Zweck hierhergeraten, um in Empfang zu nehmen, was sich ihr bot. Während sie sich noch wunderte, wie lange es gedauert hatte, um das Geheimnis der Traumschlangen zu entdecken, erkannte sie auch den Grund. Nun, nachdem sie die Wirkung des Gifts überwunden hatte, konnte sie die Sprache der Hieroglyphen verstehen, und sie sah vor sich weit mehr als nur eine Anzahl Dreierschaften von Traumschlangen, die auf dem eiskalten Geröll kopulierten. Die Heiler waren, wie alle Menschen auf der

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