Traumschlange
Erde, zu selbstbezogen, neigten zu sehr zur Nabelschau. Vielleicht war das unvermeidlich, weil man ihnen eine solche Sonderstellung auf nötigte. Aber als Folge dessen waren die Heiler kurzsichtig gewesen: Indem sie die Traumschlangen schützten, hatten sie die Tiere am Ausreifen gehindert. Doch das war ebenfalls unausweichlich gewesen. Traumschlangen waren für riskante Experimente zu wertvoll, es war sicherer, es auf der Grundlage von Zellkerntransplantationen mit dem Klonen zu versuchen, um ein paar neue Traum-schlangen zu erhalten, als das Leben jener Exemplare zu gefährden, welche den Heilern zur Verfügung standen.
Schlange lächelte angesichts der Klarheit und Einfachheit der Lösung. Natürlich hatten die Traumschlangen der Heiler nicht ausreifen können, denn offenbar benötigten sie von einem gewissen Zeitpunkt an diese bittere Kälte. Natürlich hatten sie sich nur selten vermehrt, selbst jene, die trotzdem die Geschlechtsreife erreichten
– die Kälte war eine der Voraussetzungen zur Vermehrung. Und letztlich: In der Hoffnung, daß geschlechtsreife Exemplare zufällig zusammengerieten, hatten die Heiler umfangreiche Pläne ausgeklügelt, um ihre Schlangen zur Vermehrung anzuregen... paarweise. Von jedem weitergehenden Wissen ausgeschlossen, waren sich die Heiler zwar darüber im klaren gewesen, daß ihre Traumschlangen fremdartig waren, aber sie vermochten nie richtig zu erfassen, wie fremd. Paarweise. Lautlos lachte Schlange.
Sie entsann sich leidenschaftlicher Diskussionen mit anderen Heilern in der Ausbildung, während des Unterrichts oder beim Essen, über die Frage, ob Traum-schlangen einen diploiden oder hexaploiden Chromosomensatz hätten, denn die Anzahl der Zellkörper machte beides möglich. Aber in allen diesen heftigen Disputen hatte keine Seite recht gehabt. Traum-schlangen waren triploid, es bedurfte zur Zeugung und Vermehrung einer Dreierschaft, nicht bloß eines Paares. Schlanges stummes Gelächter wich einem traurigen Lächeln, weil sie es kummervoll fand, daß ihresgleichen so viele Jahre lang derartige Fehler begangen hatte, behindert durch den Mangel an genügenden Kenntnissen, durch unzureichende technologische Hilfsmittel zur vollen Nutzung der biologischen Möglichkeiten, durch Ethnozentrismus. Und durch die zwangsweise Abschirmung der Erde von anderen Welten, durch die selbstauferlegte Absonderung zu vieler Menschengruppen voneinander. Den Heilern waren Fehler unterlaufen; nur durch Fehler hatten sie mit den Traumschlangen überhaupt Erfolge gehabt. Und nun, da Schlange dies alles einsah, war es vielleicht zu spät.
Schlange war warm, geruhsam und schläfrig zumute. Zuerst weckte sie Durst; erst dann die Erinnerung. Im Felsspalt war es nun so hell, wie es vielleicht nicht heller darin werden konnte, und das Geröll, worauf Schlange lag, war trocken. Sie bewegte ihre Hand und spürte, wie ihr aus dem schwarzen Stein Wärme zuströmte. Sie setzte sich auf und untersuchte ihre körperliche Verfassung. Ihr Knie schmerzte, war jedoch nicht geschwollen. In ihrer Schulter hockte lediglich gewöhnlicher dumpfer Schmerz. Sie wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber sie befand sich merklich auf dem Wege der Besserung.
Am anderen Ende der Felskluft sickerte in kärglichem, schnellem Rinnsal Wasser durch das Geröll. Schlange erhob sich und ging hinüber, stützte sich dabei gegen die Felswand. Sie fühlte sich unsicher, so wacklig, als sei sie plötzlich uralt geworden.
Aber ihre Kräfte waren noch vorhanden; sie spürte, wie sie allmählich zurückkehrten. Sie kniete sich neben das Rinnsal, schöpfte mit beiden Händen Wasser und trank vorsichtig. Das Wasser schmeckte klar und kalt. Im Vertrauen auf ihr Urteilsvermögen trank sie ausgiebiger. Einen Heiler zu vergiften, war eine außerordentlich schwierige Aufgabe, und im Augenblick kümmerte es sie nicht sonderlich, wenn sie ihren Körper mit noch mehr Giftstoffen belastete. Das fast eiskalte Wasser verursachte in ihrem leeren Magen einen schmerzhaften Aufruhr.
Sie schob jeden Gedanken an Nahrung beiseite und begab sich in die Mitte des Felsspalts, drehte sich langsam um die eigene Achse, um sie im Tageslicht zu betrachten. Die Felswände waren rauh, wiesen aber keine Risse auf; Zehen und Finger fänden darin keinen Halt. Der Rand befand sich ungefähr dreimal höher, als sie in kerngesundem Zustand in die Höhe springen konnte. Aber irgendwie mußte sie hinaus. Sie mußte Melissa finden, sie mußten fliehen.
Schlange
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