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Traumtagebuecher

Traumtagebuecher

Titel: Traumtagebuecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Sarafin
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etwas zu empfinden. Dann holte mein Bewusstsein auf und alle Gedanken und Empfindungen fluteten gleichzeitig über mich hinweg. Enttäuschung, Wut, Entsetzen, Trauer. Wie sollte ich mit einem Toten meine Freundin retten? Wie seine Geheimnisse notfalls mit Gewalt aus ihm herausbekommen? Ich war zu spät gekommen, hatte jede Hoffnung auf eine Lösung vertan und das nur ganz knapp. Dennoch zu spät. Der Druck in meiner Brust wuchs. Wann setzte die Leichenstarre für gewöhnlich ein? Nach sechs Stunden, einem halben Tag? Ich versuchte die Fakten zu verdrängen, dass »was wäre wenn …«. Es gab kein »was wäre wenn« mehr, keine Option. Nur noch Tatsachen, endgültige Tatsachen.
    Ich konzentrierte mich auf die runzlige Hand, die immer noch einen Kugelschreiber in der Hand hielt, im Begriff, irgendetwas auf dem Papier zu notieren. Ich musste mich an diesem einen Bruchstück des Gesamtbildes festhalten, diesem Detail. Die tiefen Furchen, die ausgeprägten Adern, die faltige, dünne Haut, dunkel gegen das rosafarbene Papier. Es half nicht. Obwohl ich ihn nicht gekannt hatte – nicht wirklich – und ihn für den Täter im Fall der schlafenden Mädchen hielt, fühlte ich mich merkwürdig. Schuldig und betroffen zugleich. Trotz allem war der Fremde mein Großvater. Mein eigen Fleisch und Blut.
    »Verdammt!«, fluchte ich und versuchte den Anflug von Mitgefühl zu unterdrücken. Es fiel mir schwer, denn er sah friedlich aus. Gelassen. Unschuldig. Beinahe wie Daria. Nur, dass er niemals wieder erwachen würde. Eines natürlich Todes gestorben. Ich trat einen Schritt näher, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer des Sheriffs.
    Grade, als mir einfiel, dass das eine ganz blöde Idee war, weil ich offiziell ja in der Schule war, glitt mein Blick von dem Datum des rosafarbenen Zettels nach unten, auf die andere Hand meines Großvaters – und auf die silberne Kette, die aus ihrem festen Griff lugte. Die Uhrenkette.
    Der Hörer glitt aus meiner Hand und polterte zu Boden, während ich vor dem Toten zurückwich. In einem Moment war er nur eine Leiche gewesen, eine tote Person, die ich nicht kannte – im nächsten ging ein Horror von ihm aus, der nichts mit der Realität zu tun hatte.
    Ohne die Leiche aus den Augen zu lassen, wich ich weiter zurück, bis ich spürte, dass sich hinter mir etwas bewegte. In der Sekunde, in der die Uhr – Pferd nach oben – aus der totenstarren Hand fiel, drehte ich mich aufgeschreckt um. Schatten! Sie waberten über die Wände, bildeten Auswüchse und krabbelten auf dünnen Geflechten über die Decke und in meine Richtung. Mit einem Aufschrei schoss ich aus dem Raum, in die Helligkeit, die das dunkler werdende Flurlicht spendete und nach unten. Die Finsternis glitt hinter mir her, die Stufen hinab, formlos und in jede Richtung beweglich, gespenstisch lautlos und atemberaubend schnell. An der Tür drehte ich mich wider Wissen um. Etwas, was ich besser gelassen hätte, denn es war kein Zweifel möglich. Einige Schatten – sie schienen das Licht förmlich zu absorbieren – hatten sich von der Wand gelöst und die Bedrohung, die von ihnen ausging, ließ mich panisch fliehen. Aus dem Haus – und weiter.
    Die vorhin freundliche, helle Umgebung mit dem offenen Acker und dem gemütlichen Wald hatte sich in eine leere Hülle verwandelt, durch die ich raste. Das Licht der Sonne ohne Glanz und Strahlkraft, Wärme nur eine Fantasie von Leuten ohne Träume. Ich sah mich nicht um. Nach wenigen hundert Metern begann meine Lunge zu brennen. Ich bekam Seitenstiche und doch lief ich in derselben Geschwindigkeit weiter und weiter. Dann sah ich ihn. Fast vor mir. Er bog von einem Waldweg auf die Straße. Lebendig, echt und kein Schatten.
    Die Erleichterung war überwältigend und löschte jede andere Empfindung, jeden anderen Gedanken aus.
    Einen Augenblick später war ich bei ihm und krallte mich an ihm fest, bevor er begriffen haben konnte, was los war. Aber er war real. Die einzige Realität.
    Nach Sekunden schlossen sich seine Arme um mich. Fest. Ich schloss die Augen und floh in die Leere meiner Gedanken.
    Schlag … Schlag … Sein Herzschlag war ebenso beruhigend wie seine Wärme und der besitzergreifende Griff. Trotzdem registrierte ich erst nach einer Weile, dass mein Atem ruhiger geworden war, mein Verstand klarer, ich mir meiner selbst und meiner Hysterie bewusst. Verwirrt wich ich zurück und starrte ihn an. Er starrte zurück, der Ausdruck auf seinem Gesicht ein Rätsel. Aber er ließ mich.

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