Traumzeit
anderen Frau war. Und später war sie nicht mehr zu einem ungezwungenen Verhältnis fähig gewesen. Auf die instinktive Art von Kindern hatte Judd das gespürt. Er redete sie mit »Pauline« an und stellte sie seinen Freunden als »die Frau meines Vaters« vor. Manchmal hätte Pauline gewünscht, daß er sie zumindest in Gegenwart anderer »Mutter« nannte.
Sie öffnete die Tür einen Spalt und sah, wie Colin hinter den Schreibtisch ging und sich das Glas füllte. Er sah mit achtundvierzig immer noch sehr gut aus. Colin achtete darauf, daß er körperlich in Form blieb. Die Silberfäden in den schwarzen Haaren unterstrichen nur sein gutes Aussehen. Pauline erinnerte sich an das heftige sexuelle Verlangen, das sie vor langer Zeit für ihn empfunden hatte. Damals verzehrte sie sich nach seiner Berührung. Wann war dieses Verlangen erloschen? überlegte sie. Wann war er einfach zu dem Mann geworden, mit dem sie in einem Haus zusammenlebte?
Dann dachte sie an John Prior, der sie auf so ganz andere Art in Erregung versetzt hatte. Durch Prior waren die alten Gefühle für Hugh Westbrook wieder an die Oberfläche gekommen – Zärtlichkeit, Zuneigung und auch Leidenschaft.
Pauline hörte, wie Colin zu Judd sagte: »Kein MacGregor von Kilmarnock ist je Lehrer gewesen, und wir wollen das auch nicht ändern.«
»Aber Vater …«, antwortete Judd.
»Großer Gott, Sohn, was würde deine Mutter sagen?«
»Pauline hat nichts dagegen …«
»Nicht sie! Deine
richtige
Mutter!«
Pauline erstarrte. Sie schloß langsam die Tür und blickte auf die Schatten in dem langen Gang.
Sie hatte sich also nicht getäuscht! In Colin gab es noch Liebe, aber nicht für sie. Ja, natürlich – sie hatte es immer gewußt. Sein Herz gehörte noch immer Christina. Pauline mußte einsehen, daß es vermutlich nie anders sein würde.
Sie suchte Antworten in den dunklen Schatten. Sie wollte ein Kind. Sie dachte an John Prior. Sie dachte an Hugh Westbrook.
3
Pauline wollte für ihren ersten Besuch auf Merinda seit neun Jahren so gut wie möglich aussehen. Deshalb zog sie sich mit größter Sorgfalt an. Sie war weder nervös noch ängstlich, sondern erstaunlich ruhig und dachte: Eine verzweifelte Frau greift zu verzweifelten Mitteln.
Seit der schicksalhaften Begegnung mit John Prior vor einem Monat mußte Pauline ständig an Hugh Westbrook denken. Sie grübelte darüber nach, was wohl gewesen wäre, wenn sie ihn nicht törichterweise einer anderen Frau überlassen hätte. Pauline versuchte sich vorzustellen, wie ihre Kinder wohl gewesen wären, wenn sie ihn geheiratet hätte. Sie dachte an das leere Kinderzimmer neben ihrem Schlafzimmer, an die monatliche Enttäuschung und an den immer verzweifelteren Wunsch, ein Kind zu bekommen, bevor sie zu alt dazu war. All das brachte sie mit Hugh in einen Zusammenhang.
Sie betrachtete sich im Spiegel. ›Noch immer schön‹, stand jetzt in den Gesellschaftsspalten über sie zu lesen. Aber Pauline wußte, es würde nicht mehr lange dauern, bis sich auch in ihren blonden Haaren weiße Strähnen zeigten. Einer Frau sind graue Haare gleichgültig, wenn sie etwas im Leben vorzuweisen hat, dachte sie.
Aber was habe ich mit meinen dreiunddreißig Jahren vorzuweisen? Einen Schrank voller Siegespreise – glänzende, aber kalte Pokale und Statuetten mit eingravierten Daten, Wettkämpfen und Ehrungen. Einen Siegespreis konnte man nicht zärtlich an sich drücken oder lieben, und er brachte ihr auch keine Liebe entgegen. Wieviel mehr hätten ihr diese Auszeichnungen jetzt bedeutet, wenn jemand dagewesen wäre, um ihm dieses Vermächtnis zu übergeben. Hätte sie ihr Können einer Tochter beibringen können, wäre sie wirklich stolz auf ihre Leistungen im Reiten und Bogenschießen gewesen. Aber so fand Pauline ihr Leben steril und sinnlos.
Eine neue Ausgabe der
Times
lag auf ihrer Kommode. Pauline hatte den Brief gelesen, der auf der zweiten Seite abgedruckt worden war.
›Es ist Zeit, daß wir aufhören, uns als Victorianer und Queensländer zu sehen und als Leute aus Neusüdwales‹, hatte Hugh Westbrook geschrieben. ›Wir sind Australier. Wir sollten nicht England als unsere Heimat ansehen. Wir sollten nicht mehr über das Meer blicken und Schutz und Sicherheit von dort erwarten. Es ist Zeit, daß wir mündig werden und ein vereintes Volk.‹
Pauline hatte Hugh über die Vereinigung der australischen Kolonien sprechen hören. Hugh führte aus, daß in den fast einhundert Jahren, seit Weiße diesen
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