Traumzeit
Mädchen hoffnungslos in ihn verliebt gewesen war, aber als die Jahre vergingen, hatte sie eigentlich nicht mehr damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen. Der plötzliche Ansturm der Gefühle bei seinem Anblick in Melbourne verblüffte sie, und jetzt versuchte Sarah, ihre Gefühle zu ordnen. Bestimmt, dachte sie, werde ich mich nicht noch einmal in ihn verlieben.
Was er wohl über sie dachte? Was hatte er gedacht, als er sie nach sechseinhalb Jahren plötzlich wiedersah? Er schien überrascht gewesen zu sein.
Sarah versuchte, sich seine Frau vorzustellen. Sie konnte sich nur denken, daß Philip eine starke Frau mit einer großen Persönlichkeit geheiratet hatte. Sie dachte an Blütenstaub im Wind. Vielleicht hatte Philip sie geheiratet. Er hatte oft von ihr gesprochen.
Aber seine Frau hieß Alice. Das hatte er in seinem letzten Brief geschrieben. Alice …, ja das war ihr Name.
Trotz der geschlossenen Läden und der feuchten Leinwand, die draußen an den Wänden hing, um das Haus innen kühl zu halten, war es in dem Zimmer heiß. Die späte Nachmittagssonne schickte ihre grellen Strahlen durch die Schlitze in den Läden. Sarah legte die Hände auf die Brüste. Ihre Haut war feucht und glühte. Sie schloß die Augen. Philip ist verheiratet, ermahnte sie sich.
Eilige Schritte im Flur erinnerten sie an die Zeit. Und dann hörte sie Lisas Stimme durch das Haus schallen: »Sie sind da! Sie sind da!«
Sarah zog sich schnell an. Ihre Hände zitterten, als sie die weiße Bluse zuknöpfte. Der hochgeschlossene Kragen und die Manschetten waren gestärkt, die vielen Unterröcke schwer. Plötzlich lehnte sie sich gegen diese beengende Kleidung auf. Sie war in der Hitze so unpraktisch. Oft fragte sie sich, weshalb die weißen Frauen sich trotz des warmen Klimas in Australien anzogen, als lebten sie noch immer im nebligen, kalten England. Aber Sarah fügte sich den Regeln. Sie schnürte die Taille mit einem Korsett. Sie trug die Haare aufgesteckt. Sie steckte eine Kameebrosche an den hochgeschlossenen, unbequemen Kragen, und sie zwängte ihre Füße in Schnürstiefel mit hohen Absätzen.
Sie betrat die Veranda, als der Zweispänner gerade in den Hof rollte. Lisa wollte hinunterlaufen und die Gäste begrüßen, aber Joanna legte ihrer Tochter entschlossen die Hand auf die Schulter. »Benimm dich wie eine Dame.« Die allgemeine Aufregung war spürbar. Hausgäste waren keine Seltenheit auf Merinda, aber meist handelte es sich um Hughs Schafzüchterfreunde. Ein Architekt aus Amerika mit seiner Familie, das war etwas ganz anderes.
Hugh stieg auf einer Seite vom Wagen, und Philip auf der anderen. Sie halfen beide Mrs. McNeal und dem kleinen Jungen beim Aussteigen.
»Sie ist hübsch!« flüsterte Mrs. Jackson, die hinter Joanna stand. »Aber sie ist ja noch so jung. Ich würde sagen, sie ist fast ein Mädchen.«
Sarahs Augen richteten sich auf Alice McNeal. Sie sah eine zierliche Gestalt in einem braunen Samtkleid. Alice setzte behutsam den Fuß auf den Boden, reichte Philip anmutig die Hand und lächelte dankbar, als sie Hugh die andere gab. McNeal half seinem kleinen Sohn beim Aussteigen, und dabei stellte Sarah fest, daß Alice ihrem Mann kaum bis zur Schulter reichte. Im Vergleich zu den beiden Männern, die auf dem Weg zum Haus an ihrer Seite gingen, wirkte Mrs. McNeal fast wie eine Puppe. Sarah bemerkte dichte schwarze Haare unter einem kleinen hübschen Häubchen, und eine unglaublich weiße Haut. Sie hatte das herzförmige Gesicht, das zur Zeit in den Frauenzeitschriften als Ideal verherrlicht wurde.
»Mrs. Westbrook«, sagte Philip, »darf ich Sie mit meiner Frau Alice bekannt machen? Und das ist Daniel.«
Joanna ging mit ausgestreckten Händen die Stufen hinunter. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. McNeal. Seien Sie willkommen auf Merinda. Guten Tag, Daniel, du bist aber ein großer Junge!«
Als Alice McNeal die Stufen heraufkam, sah Sarah ein schwaches Lächeln und tiefliegende, überschattete Augen. Etwas Melancholisches ging von ihr aus, das Sarah aus der Ferne nicht wahrgenommen hatte.
»Das sind meine Kinder, Adam und Lisa«, sagte Joanna, »und das ist Sarah King. Sie lebt bei uns.«
Sarah stellte fest, daß Alice sie sehr lange ansah. Dann gingen alle ins Haus.
Kaum im Wohnzimmer angelangt, konnte Hugh seine Ungeduld nicht länger bezähmen und sagte zu Philip: »Wir könnten hinunter zum Fluß gehen und uns den Bauplatz ansehen. Ich bin so gespannt, was Sie sagen werden.«
»Aber
Weitere Kostenlose Bücher