Traumzeit
in einem langen Raum mit acht Betten und ein paar Stühlen und Tischen. Sieben Betten waren ordentlich bezogen und standen leer, aber in dem achten lag eine Frau mit geschlossenen Augen. Sie war eindeutig krank. Sie drehte den Kopf von der einen Seite zur anderen und stöhnte. Eine Gruppe Frauen tanzte um das Bett. Sie hielten die Hände wie Schalen vor dem Körper, schoben sie beim Tanzen vorwärts und hielten sie über die liegende Frau.
Plötzlich entdeckte eine der Frauen Sarah und Joanna und verstummte. Auch die anderen hörten auf zu singen und blickten neugierig auf die Fremden.
»Guten Tag«, sagte Joanna, »entschuldigen Sie die Störung. Aber darf ich die Kranke untersuchen? Vielleicht kann ich helfen.«
Joanna hatte mit Widerstand oder gar Ablehnung gerechnet. Aber die Frauen lächelten verlegen und bedeuteten ihr, ans Bett zu treten. Joanna setzte sich auf die Bettkante und untersuchte die Patientin auf gewissse Symptome. Es gelang ihr zwar nicht, die Krankheit zu diagnostizieren, aber sie sah in den Augen der Frau die Ergebenheit in ihr Schicksal. Dann bemerkte sie auf dem Nachttisch zwei Tütchen mit »Ingwer« und »Schafgarbe«, wie die Etiketten auswiesen, eine Flasche Weidenrindenextrakt und eine Senfpackung. Das alles hätte auch sie empfohlen. Offenbar hatte es der Distriktsarzt verschrieben – ohne Erfolg.
Als Joanna sich erhob, sahen die Frauen sie erwartungsvoll an, aber sie konnte nur sagen: »Bedaure …«
Die Frauen nahmen ihren Gesang und den seltsamen Tanz wieder auf, während Sarah und Joanna zur Tür gingen. »Ich möchte doch wissen, ob sie ihr helfen können«, sagte Joanna.
»Ich kenne das Ritual nicht«, sagte Sarah, »und ich weiß nicht, wie man jemandem hilft, der besungen worden ist.«
»Vielleicht kommt es nicht auf das Ritual an. Vielleicht muß das Opfer nur daran glauben, daß ihm die Worte und der Gesang helfen werden. Ich wünschte, ich könnte wie diese Frauen an solche Kräfte glauben. Ich wünschte, ich könnte meinen eigenen Gesang singen und damit das Gift vertreiben. Vielleicht würde es tatsächlich verschwinden. Vielleicht hätte ich dann keine Alpträume mehr und wäre von der entsetzlichen Angst und der unheilvollen Ahnung befreit, wenn ich Lisa ansehe.«
Robertson erwartete sie, und als Joanna darauf hinwies, daß solche Rituale in anderen Missionsdörfern verboten seien, erwiderte er: »Es macht mich traurig, mit anzusehen, wie diese Menschen ihre Kultur verlieren. Man hat den Aborigines so viele ihrer heiligen Stätten genommen. Hunderte, vielleicht sogar Tausende ihrer heiligen Wasserstellen und Höhlen haben sie verloren. Und ich möchte hinzufügen, es handelt sich dabei nicht nur um einen geistigen Verlust. Denken Sie daran, daß die Aborigines nie ihre Geschichte niedergeschrieben haben. Die Wahrzeichen der vorausgegangenen Generationen sind die heiligen Stätten entlang der Traumpfade. Die Aborigines folgten den alten Spuren und wiederholten dabei die alten Geschichten. Als man ihnen ihre Traumpfade nahm, verloren sie sehr bald die Verbindung zu ihren Vorfahren. Ich habe oft darauf hingewiesen, daß der Verlust der heiligen Stätten für die Aborigines gleichbedeutend war mit dem Verbrennen einer Bibliothek!«
»Ihre Leute scheinen hier sehr glücklich zu sein«, erwiderte Joanna, als sie sich Robertsons Haus näherten.
»Leider gibt es trotzdem genug, Mrs. Westbrook, die davonlaufen.«
»Wohin gehen sie?«
»Meist in die Städte und Siedlungen. Sie finden Geschmack an Tabak und Alkohol, und manchmal werden sie sogar abhängig. Dann tun sie alles, um sich Alkohol und Tabak zu verschaffen. Einige wenige verschwinden im Landesinnern, weil sie hoffen, dort die alte Lebensweise wiederzufinden und Land, in dem es keinen Weißen gibt.«
»Leben viele im Busch, die so denken?«
»Das weiß niemand. Große Teile von Australien sind immer noch nicht erforscht.«
Von Weißen nicht erforscht, dachte Joanna, aber zweifellos sind sie gründlich erforscht und den Aborigines bekannt, die dort leben.
Joanna mußte unwillkürlich an den Kutscher der Überlandkutsche denken und an die Reisenden, die keine Einwände erhoben hatten, als er Sarah nicht einsteigen ließ. Joanna dachte auch an Eingeborene, die sie in Melbourne gesehen hatte – Betrunkene, Bettler, Prostituierte. Ihr war auch schmerzlich bewußt, daß Sarah weniger und weniger von der Kultur ihres Volks zu wissen schien. Reverend Simms hatte einmal zu Joanna gesagt: »Wir ermutigen die
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