Traumzeit
sich mit einem gewissen Stolz. Die Aborigines bei Reverend Simms waren unterwürfig, aber bei Robertson besaßen sie Würde.
»Wir haben es inzwischen geschafft, Mrs. Westbrook«, sagte Robertson, »daß wir völlig unabhängig sind. Das Dorf ist nicht länger auf die Unterstützung der Regierung angewiesen. Wir bauen unseren eigenen Weizen, Hopfen und Gemüse an. Wir haben siebzig Rinder, davon fünfzehn Milchkühe und genug Schweine, um das ganze Jahr hindurch mit Fleisch versorgt zu sein. Verstehen Sie, die Leiter anderer Missionsdörfer glauben, man müßte die Eingeborenen wie Kinder behandeln, sie sozusagen bevormunden. Ich bin der Ansicht, daß die Aborigines besser zurechtkommen, wenn sie für sich selbst verantwortlich sind. Wenn man ihnen Eigeninitiativen verweigert, dann verlieren sie ihr Selbstwertgefühl.«
Joanna erinnerte sich an die Besuche in der Mission im westlichen Distrikt, die immer noch von Reverend Simms geleitet wurde. Die Aborigines dort waren im allgemeinen unglücklich und oft aufsässig. Simms verschärfte dann die Disziplin, und Joanna fand, daß er dadurch alles nur noch verschlimmerte.
»Sind Ihre Leute hier glücklich?« fragte sie.
»Sie sind ganz zufrieden, Mrs. Westbrook. Natürlich handelt es sich bei der Mehrzahl um Mischlinge. Sie fühlen sich an diesem Ort sicherer als draußen in der Gesellschaft, wo sie weder von den Schwarzen noch von den Weißen anerkannt werden.« Er warf einen kurzen Blick auf Sarah in dem eleganten Samtkostüm mit Federhut und dem goldenen Kruzifix am Hals. »Wir haben nur wenige reinrassige Aborigines, und sie sind sehr alt.«
Joanna mußte an die Aborigines denken, die sie im Missionsdorf des westlichen Distrikts gesehen hatte, als Reverend Simms sie das letzte Mal herumführte. Die Leute waren alle ordentlich gekleidet und gut genährt. Sie hatten gelächelt und stolz ihre Körbe und Decken gezeigt. Aber unter der Oberfläche spürte Joanna eine Art Verwirrung und Unsicherheit. Sie hatte sich die winzigen, aber ordentlichen und sauberen Hütten angesehen, und man hatte sie mit Mary, Joseph und Agatha bekannt gemacht. Sie sah lächelnde Mütter in europäischen Kleidern und stolze alte Herren in Frackjacken und gestreiften Hosen. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, daß irgend etwas nicht stimmte. Trotz der scheinbaren Zufriedenheit und dem offensichtlichen Wohlstand wirkten die Menschen verloren. Joanna hatte den Eindruck, daß diese Menschen sich unter der Leitung von Reverend Simms nicht entwickelten, sondern einfach so in den Tag hinein lebten, bis sie starben.
Sie kamen zu einem größeren Gebäude, und Joanna fragte: »Wird da gesungen, Mr. Robertson?«
»Ja, richtig«, erwiderte er, »das ist unsere Krankenstation. Eine Frau liegt dort. Sie ist sehr krank. Ihre Verwandten versuchen, sie zu heilen. Die Frauen singen einen Heil-Gesang.«
»Was fehlt ihr?«
»Sie hat starke Bauchschmerzen, die gestern nacht ganz plötzlich auftraten. Die Frauen singen bereits viele Stunden.«
»Tun sie nicht mehr für die Frau?«
»Sie haben ihr den Körper mit Emufett und Asche eingerieben und ihr ein Haarband um die Hüfte gelegt. Aber der Gesang ist das Wesentliche an ihrer Behandlung.«
»Müßte nicht ein Arzt gerufen werden?«
»Das hilft ihr nicht, Mrs. Westbrook. Der Distriktarzt hat sie untersucht und erklärt, er könne ihr nicht helfen. Die Krankheit hat keine organische Ursache. Soweit ich gehört habe, ist die Kranke mit dem Mann einer anderen Frau weggelaufen. Sie sind bis in die nächste Stadt gekommen, und dort hat der Mann sie verlassen. Als sie wieder hier erschien, hat die andere Frau sie ›besungen‹. Ich will damit sagen, es ist eine Art Magie im Spiel.«
»Sie meinen, einen Gift-Gesang?«
»Ja richtig. Sie haben also davon schon gehört.«
»Kann man der Frau denn nicht helfen?«
»Ihre Verwandten versuchen, das Gift unschädlich zu machen, indem sie ihre Heilkraft durch den Gesang auf sie übertragen. Medikamente der Weißen können nicht helfen, vielleicht werden sie Erfolg haben. Es kommt nur auf den Glauben an.«
»Glauben Sie, die Leute haben etwas dagegen, wenn ich die Frau untersuche? Ich kann einige Krankheiten erfolgreich behandeln.«
»Sie werden überhaupt nichts dagegen haben, Mrs. Westbrook. Sie werden sich freuen, wenn Sie versuchen zu helfen. Gehen Sie hinein, ich warte hier. Ich darf nicht anwesend sein, wenn Frauen eines ihrer Rituale vollziehen.«
Joanna und Sarah traten durch die Tür und standen
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