Traumzeit
der Straße ab, und Joanna sah einen Torbogen. In das dicke Holz geschnitzt stand dort: KARRA KARRA ABORIGINES - MIS - SIONSDORF . Joanna nahm die Bäume in sich auf, den grauen Himmel, die gemauerten Gebäude, die Schweine und die Hühner im Hof. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihre Großmutter hier vor langer, langer Zeit erlebt haben mochte, als es vermutlich noch nichts gab außer ein paar Hütten. Joanna atmete langsam und tief die kühle Bergluft und versuchte, den Glauben und die Begeisterung von John Makepeace nachzuempfinden, die ihn auf der Suche nach dem Zweiten Paradies in diesen Wald geführt hatte. Und sie dachte an die junge Schwarze, an die Lady Emily sich zu erinnern glaubte, an Reena! Vielleicht war sie oder einer ihrer Nachkommen noch am Leben.
»Wir werden zuerst Tee trinken«, sagte Robertson, »dann zeige ich Ihnen alles.«
Der Missionsleiter wohnte in einem kleinen Steinhaus mit zwei Zimmern und einer Veranda. Eine Mischlingsfrau mit dem Namen Nelli servierte den Gästen in Robertsons bescheidenem Wohnzimmer Tee. Sie betrachtete die beiden Gäste immer wieder neugierig und musterte besonders Sarah mit Staunen.
»Also, Mrs. Westbrook«, sagte Robertson, »was interessiert Sie an Karra Karra?«
Joanna erzählte ihm von John und Naomi Makepeace. Sie sprach auch von der unerklärlichen Abreise ihrer Mutter aus Australien und ihrer eigenen Suche nach einer Lösung der Geheimnisse. Als sie mit ihrem Bericht zu Ende war, sagte Robertson: »O je, ich fürchte, das kann unmöglich derselbe Ort sein!«
»Warum nicht?«
»Nun ja, diese Mission wurde erst 1860 ins Leben gerufen.«
Joanna und Sarah sahen sich an. »Aber Sie haben doch gesagt, die Mission sei alt!«
»Relativ gesehen, ja. In Kolonien, die weniger als hundert Jahre alt sind, bedeuten zwanzig Jahre bereits eine sehr lange Zeit. Aber außerdem hieß dieses Missionsdorf ursprünglich nicht Karra Karra, Mrs. Westbrook. Bis vor einem Jahr, als ich hier meine Arbeit begann, hieß es St.- Josephs-Heim für Eingeborene.«
»Ach so«, sagte Joanna, »deshalb habe ich das Dorf auf keiner Landkarte finden können.«
»Ich hielt den früheren Namen nicht passend für ein Dorf der Aborigines. Deshalb habe ich die Bewohner aufgefordert, selbst einen Namen zu wählen. Sie haben miteinander beraten und sich für
Karra Karra
entschieden. Es ist der Name einer Blume, die hier in der Gegend häufig wächst. Sie ist Ihnen bestimmt aufgefallen. Sie hat trompetenförmige Blüten mit weißen und lavendelblauen Blütenblättern.«
Joannas Enttäuschung war groß. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Es tut mir leid, Mrs. Westbrook. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn das der Ort wäre, den Sie suchen.«
»Wissen Sie zufällig«, fragte Joanna schließlich, »ob das Wort
karra karra
bei allen Aborigines dasselbe bedeutet?«
»Man schätzt, daß es unter den Aborigines auf diesem Kontinent mehr als zweihundert verschiedene Sprachen gibt, Mrs. Westbrook. Man könnte sagen, jeder Stamm hat eine eigene Sprache. Ein Wort in der einen Sprache kann in einer zweiten etwas völlig anderes bedeuten.«
»Ich verstehe.« Joanna seufzte.
»Möchten Sie sich jetzt vielleicht die Mission ansehen?«
Robertson führte Joanna und Sarah zuerst in die Kapelle, wo sie zusammen ein Gebet sprachen. Dann zeigte er ihnen das Zentrum der Mission, die aus einzelnen kleinen Häusern, Gebäuden für die Allgemeinheit und Ställen für die Tiere bestand. Man zeigte Joanna, wie die Frauen Körbe flochten. Sie taten es immer noch wie ihre Vorfahren. Die Frauen mußten weit laufen, um die geeigneten Binsen zu sammeln, erklärte Robertson. Die Binsen wurden gespalten, zusammengebunden und einige Stunden in Wasser gestellt. Danach hängte man sie auf und ließ sie so lange an der Luft trocknen, bis man sie verarbeiten konnte. Man erzählte Joanna, daß die Körbe in den umliegenden Städten guten Absatz fanden.
Sie und Sarah beobachteten, wie Männer Opossumfelle gerbten, aus denen sie dann Decken machten, die ebenfalls verkauft wurden. Sie sahen den Gemüsegarten, wo die Leute pflanzten und ernteten. Kühe wurden gemolken, und Kinder sangen in dem winzigen Schulhaus. Überall begrüßte man sie und Sarah sehr höflich und mit freundlichem Lächeln. Aber Joanna bemerkte den Unterschied zwischen diesen Menschen und Aborigines in der Mission im westlichen Distrikt. Hier im Karra-Karra-Missionsdorf hielten sich die Leute aufrecht, sie wirkten größer und bewegten
Weitere Kostenlose Bücher