Traumzeit
nur das leiseste Gefühl von Bedauern oder Scham empfand.
»Was ist denn los?« rief einer der Jungen. »Kannst du keinen Schritt ohne dein Nigger-Kindermädchen tun?«
Als Judd sah, daß Lisa sich umdrehte, um etwas darauf zu erwidern, schloß er das Fenster. Der Nachteil des Lebens in der Schule, so fand er, waren solche Ablenkungen.
Er vermißte den Frieden und die Ruhe von Kilmarnock. Doch er hatte festgestellt, daß er dort nicht leben konnte. Die ständigen Erinnerungen waren zu schmerzlich. Judds Vater war immer noch präsent, in jedem Stein, in jedem Brett von Kilmarnock, in jeder Ritterrüstung, jeder Teetasse und jeder Staubflocke. Judd dachte an den angefangenen Entschuldigungsbrief, in dem er seinen Vater bat, nach Hause zurückzukommen. Er würde diesen Brief nie beenden, nie abschicken.
Judd wandte sich wieder Lisas Hausarbeit zu. Er sah das Mädchen vor sich, das eines Tages im Januar in seinem Klassenzimmer erschienen war – keineswegs scheu und zögernd. Lisa stand einfach da, als warte sie, daß etwas geschah. Sie trug ein langes weißes Kleid, ihr Haar glänzte, und Judd mußte an die Gelegenheiten denken, wenn er Lisa Westbrook bei der Landwirtschaftsausstellung oder in Cameron Town gesehen hatte. Sie war ein jungenhaftes Mädchen mit Zöpfen und einer Schürze gewesen und mit einer Gruppe Jungen zwischen den Besuchern herumgerannt. Das Mädchen, das frühmorgens, vor den anderen Schülern in seinem Klassenzimmer aufgetaucht war, konnte man nicht als jungenhaft bezeichnen. Judd wußte aus Lisas Unterlagen, daß sie im vergangenen September zwölf geworden war. Und er konnte bereits die Zeichen sehen, die Lisa im Laufe der Monate mehr und mehr zu einem Störfaktor in seiner Klasse machen würden. Im Augenblick mochten die Jungen sie vielleicht wie einen der ihren behandeln – mit Sicherheit ärgerten sie Lisa, wie eine andere Gruppe Jungen einmal den kleinen Judd MacGregor geärgert hatte. Doch Judd wußte, bald würden die Jungen Lisa mit anderen Augen sehen, und sie würde es ihnen immer schwerer machen, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.
Judd beobachtete durch das Fenster, wie die Jungen Lisa unten auf dem Weg verspotteten, und er sagte sich, wahrscheinlich werde sie nicht lange an der Schule bleiben. Die Jungen machten ihr das Leben sehr schwer. Ihre Anwesenheit störte sie, und das war besonders deshalb verständlich, weil Lisa im Unterricht so gut war. Judd wußte, daß einer der Lehrer sie nicht aufrief, wenn sie die Hand hob. Ein anderer hatte sogar davon gesprochen, er werde aus Protest kündigen. Auch manche Eltern protestierten. Vier Jungen waren von der Schule genommen worden, als ihre Väter von der Mitschülerin erfuhren. Als Judd den Direktor darauf angesprochen hatte und ihn daran erinnerte, welchen Schaden die Anwesenheit des Mädchens der Schule zufügte, gab Carpenter ihm eine Antwort in Pfund und Schilling. »Westbrooks Spende ist mehr als ein Ausgleich für die verlorenen Schulgelder, Mr. MacGregor. Und wir haben sein Versprechen, daß wir die Spende jedes Jahr erhalten, solange seine Tochter die Schule besucht.«
Doch Judd beharrte darauf, es sei mehr eine Frage der Ehre als des Geldes. »Sehen Sie sich doch nur an«, erklärte er, »welche Schwierigkeiten die neuen Gesetze in den Kolonien heraufbeschwören, die Frauen den Besuch akademischer Institutionen gestatten.« Massive Proteste wegen der Zulassung von Studentinnen an der University of Melbourne hatten vor kurzem zu einem tagelangen Vorlesungsstopp geführt. Und Lehrkräfte, die ihre Arbeit niedergelegt hatten, nahmen sie nicht wieder auf. Judd war stolz auf Tongarra. Er fand den Gedanken schrecklich, welche Auswirkungen dieses Sinken der Standards auf lange Sicht für den Ruf der Schule haben würde.
Wenn sie Glück hatten, sagte sich Judd, würde das Mädchen von sich aus gehen. Und wenn sie sich jemals bei ihm darüber beklagen sollte, wie die Jungen sie behandelten, würde Judd ganz bestimmt ihre Entfernung von der Schule verlangen.
Er warf noch einen Blick auf Lisas Arbeit, entschied, daß er zuviel Zeit mit einem unbedeutenden Problem verschwendete und schrieb die Worte ›Sehr gut‹ an den oberen Blattrand.
2
»Was ist denn los?« rief ein Junge namens Randolph Carey hinter Lisa her. »Kannst du keinen Schritt ohne dein Nigger-Kindermädchen tun?«
Das reichte Lisa. Die Jungen hatten sie auf dem Weg vom Tor, wo der Wagen sie abgesetzt und sie sich von Sarah verabschiedet hatte, über das
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