Traumzeit
Schulgelände verspottet und beschimpft. Bis jetzt hatte Lisa es ertragen, aber nun war es genug. Sie drehte sich um. »Sarah ist kein Nigger. Und sie ist nicht mein Kindermädchen. Sie ist meine Freundin.«
»Jeder weiß, daß deine Mutter die Nigger liebt«, rief der dreizehnjährige Michael Callahan. »Mein Vater sagt, wenn ihr soviel an den Eingeborenen liegt, soll sie doch zu ihnen gehen und bei ihnen leben.«
»Und dein Vater schreibt Gedichte«, sagte Randolph. »Ist er denn kein richtiger Mann?«
»Viele Männer schreiben Gedichte.«
In diesem Augenblick sah Lisa ein Aufblitzen. Sie hob den Kopf und stellte fest, daß Judd MacGregor das Fenster seines Zimmers im zweiten Stock schloß. Sie überlegte, ob er etwas gehört hatte.
Nein, sagte sie sich, denn sie wußte, Mr. MacGregor war ein Gentleman. Wenn er gehört hätte, was die Jungen alles zu ihr sagten, hätte er es ihnen verboten.
Es gefiel Lisa, daß Mr. MacGregor sie nicht als etwas Besonderes behandelte. Er bevorzugte sie nie, er machte sich nie über sie lustig oder tat, als sei sie zerbrechlich, wie der alte Mr. Carmichael. Der gab ihr nämlich keine harte Arbeit und sie mußte auch nicht strammstehen, wenn er das Klassenzimmer betrat. Und wenn sie eine falsche Antwort gab, und die Jungen lachten, dann lachte Mr. MacGregor nicht mit, wie es Mr. Tylor immer tat. Mr. MacGregor behandelte Lisa mit einer gewissen Gleichgültigkeit, und sie glaubte fest, das war ein Zeichen seines Vertrauens in sie. Vermutlich wußte er, sie würde ihren Erfolg lieber eigenen Leistungen zu verdanken haben als besonderer Hilfe. Und deshalb hatte sich Lisa nur noch mehr in ihn verliebt.
Randolph Carey, ein großer, rothaariger Junge mit Sommersprossen sagte: »Warum gehst du nicht zurück nach England, du blöde Engländerin?«
»Ich bin keine Engländerin!«
»Deine Mutter ist eine. Mein Vater sagt, sie ist eine …«
In diesem Augenblick kam Mr. Edgeware, der Lateinprofessor, aus dem Schulgebäude. Die Jungen verstummten. Als er eilig an ihnen vorbeiging, sagten sie: »Guten Morgen, Sir.«
»Warum laßt ihr mich nicht in Ruhe«, sagte Lisa zu ihren Peinigern, nachdem Mr. Edgeware außer Hörweite war.
»Hör zu, Westbrook. Wenn du willst, daß wir dich in Ruhe lassen, dann mußt du eine von uns werden. Du mußt zu uns gehören.«
Lisa sah ihn wachsam an. »Und wie geht das?«
»Du mußt eine Prüfung bestehen. Jeder, der zu uns gehören will, muß sich der Einweihung unterziehen.«
»Was für eine Art Einweihung?«
»Das kann ich dir vorher nicht sagen. Sonst wäre es zu leicht. Aber wenn du meinst, du schaffst es nicht …«
»Ich schaffe es«, sagte Lisa.
»Also gut. Du mußt folgendes tun.«
Die Schülerschaft bereitete den jährlichen Unterhaltungsabend vor – Sketche, Lieder, Lesungen von Geschichten, alles ohne Hilfe der Lehrer von den Schülern geschrieben, eingeübt und vorgeführt.
»Morgen abend ist im Auditorium eine Probe«, sagte Randolph. »Sag deiner Nanny, daß du dazu hierbleibst.«
»Aber meine Eltern wissen, daß ich nicht mitmache.«
»Sag ihnen, du siehst bei der Probe zu. Sie ist um neun zu Ende. Aber du gehst nicht ins Auditorium. Du bist um sieben am Pferch mit dem Desinfektionsbecken. Dann bekommst du deine Anweisungen. Es sei denn, du hast zu große Angst und kommst nicht.«
Lisa zögerte. Sie blickte auf die Jungen, die sie umstanden. Sie sah, daß Randolph die Lippen zu einem leichten Lächeln verzog. Dann dachte sie daran, daß er einmal eine Schlange in ihrem Pult versteckt hatte. »Ich werde dort sein«, sagte sie.
Als Randolph und seine Freunde gingen, sagte Billie Addison zu Lisa: »Nimm dich in acht. Carey hat etwas vor.«
Aber Lisa wußte bereits, am nächsten Abend erwartete sie eine Art Prüfung. Die tote Schlange in ihrem Pult war nur einer von vielen Streichen, gewesen, die man ihr spielte – sie entdeckte Tinte auf ihrem Stuhl, der Pultdeckel war zugeklebt, ihr Mittagessen wurde gestohlen –, um festzustellen, ob sie deshalb zu den Lehrern oder ihren Eltern laufen werde. Bis jetzt hatte sie Randolph und seinen Freunden diese Genugtuung jedoch nicht verschafft.
»Wenn du hingehst«, sagte Billie, »werden sie vielleicht etwas Schlimmes mit dir machen.«
»Wirst du mir helfen?«
Billie zögerte, und Lisa fuhr fort: »Schon in Ordnung. Ich verstehe.«
»Ich bin kein Feigling«, sagte Billie. »Es ist nur, mein Vater sagt, wenn ich mich noch einmal prügle, nimmt er mich von der Schule. Dann
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