Traumzeit
Feinden werden und Söhne zu Fremden. Aber eine Wahrheit bleibt bestehen: Ein Mann kann sich auf sein ererbtes Geburtsrecht immer verlassen. Die Bank mag mir die Farm abnehmen, meine Gläubiger können mein ganzes Vermögen an sich reißen. Doch meinen Titel können sie mir nicht nehmen. Ich bin und bleibe der Laird von Kilmarnock.«
Da wußte Judd, sein Vater würde davonlaufen und nie mehr zurückkommen. Und in dem verzweifelten Versuch, seinen Vater zum Bleiben zu bewegen, hatte Judd Dinge gesagt, die er inzwischen bedauerte – im Zorn, in der Absicht ihn zu verletzen. Er wollte den Kern der Aggressivität treffen, die, wie er wußte, zum Wesen seines Vaters gehörte. Er hoffte, Colins Zorn zu wecken. Er wollte ihn soweit bringen, daß er blieb und um Kilmarnock kämpfte – um das neue Kilmarnock, nicht das alte zerfallene, das den Geistern gehörte, sondern um das Kilmarnock in der Sonne, das so viele Versprechen barg.
»Du hast dein Erbe nie gewürdigt«, sagte Colin bitter.
Judd erwiderte: »Ich bin Australier, Vater. Hier liegt mein Erbe, hier an diesem Ort.«
»Als Lehrer.«
»Jawohl, als Lehrer. Ich bin kein Lord, und ich will kein Lord sein.«
»Dann geh in deine Landwirtschaftsschule und lebe dort. Wirf alles weg, was ich für dich aufgebaut habe, alles was ich erarbeitet habe, um es dir zu übergeben. Geh und werde ein gewöhnlicher Lehrer von gewöhnlichen Kindern an einer gewöhnlichen Schule. Mein Gott, Judd, vergiß nicht, du bist nicht nach Oxford berufen worden, oder? Du gehst an eine provinzielle Landwirtschaftsschule in einer provinziellen Kolonie.«
Vater und Sohn hatten sich über das verhaßte Arbeitszimmer hinweg angesehen. Die Worte, die auf beiden Seiten gefallen waren, konnten nicht zurückgenommen werden. Sie hingen in der Luft wie Echos. Und das Elend, die Bitterkeit und die Ohnmacht, die sie beide empfanden, ließen eine Geste der Versöhnung nicht zu, noch nicht einmal die Worte: »Es tut mir leid.«
Judds Finger umklammerten das Champagnerglas, während er sah, wie die Frauen sich um Louisa Hamilton drängten, die nach Luft rang und sich offenbar übergeben mußte. Joanna Westbrook hielt Louisa ein Fläschchen Riechsalz unter die Nase. Die Hamilton-Töchter, alles verwöhnte junge Frauen, standen aufgeregt und hilflos um ihre Mutter herum. Judd sah, wie seine Stiefmutter in dieser Gruppe auffiel.
Pauline war neununddreißig, aber Judd fand sie immer noch schön. Er wußte, in ihrem schlanken, graziösen Körper verbargen sich seelische Qualen. Er wußte, was Colin ihr mit seiner Flucht antat. Und Judd kam der Gedanke, daß er in all den Jahren Pauline gegenüber vielleicht ungerecht gewesen war. Er hatte kühle Distanz zu ihr gehalten und geglaubt, sie sei wie Colin, nur weil sie ihn geheiratet hatte. Aber als Judd in den drei Monaten nach Colins Abreise erlebte, wie standhaft sie diese Belastung ertrug, stellte er fest, daß er anfing, sie zu bewundern.
Judd trank seinen Champagner aus und ging zur Bar zurück.
Joanna saß bei Louisa, und ihr Blick schweifte auf der Suche nach Lisa durch den Raum. Ihre Tochter stand unter einem Porträt von König George und hielt ein scheinbar vergessenes Glas Limonade in der Hand. Joanna folgte der Richtung von Lisas Augen und stellte fest, daß ihre Aufmerksamkeit Judd McGregor galt. Und Lisas Gesichtsausdruck ließ in Joanna die Angst und diese unbestimmte Vorahnung wieder aufsteigen. Sie erkannte, was ihre Tochter für den gut aussehenden jungen Mann empfand – Lisa redete nur noch von Mr. MacGregor. »Ich wußte überhaupt nicht, daß er so reizend ist, Mutter«, hatte Lisa nach der letzten Landwirtschaftsausstellung gesagt, auf der Judd einen Preis für einen Zuchtwidder erhielt. »Ich habe ihn schon tausendmal gesehen, aber mir fällt jetzt erst auf, wie wundervoll er ist. Und stell dir nur vor, er wird in der neuen Schule mein Lehrer sein.«
Das hatte Joanna daran erinnert, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis Lisa verheiratet war. Sie würde von Merinda weggehen und woanders leben. Wie konnte Joanna sie dann beschützen?
»Ach du meine Güte«, stöhnte Louisa Hamilton, der plötzliche Mittelpunkt weiblicher Besorgnis. »Es muß die Hitze sein. Mir geht es wirklich nicht gut.«
Pauline stand neben ihr und beobachtete Joannas Bemühen, Louisa zu helfen. Louisa warf Pauline einen ängstlichen und verzweifelten Blick zu, den sie nur allzugut kannte. Und Pauline wußte sofort, worin Louisas Problem bestand: Sie
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