Traumzeit
muß ich auf der Farm arbeiten. Du solltest morgen abend einen Bogen um das Desinfektionsbecken machen und wie immer nach Hause gehen.«
Lisa wußte, sie konnte vor Careys Herausforderung nicht davonlaufen. Sie hatte ihr Leben lang mit Jungen gespielt, und sie kannte ihre Rituale, die Prüfungen, denen sie sich gegenseitig unterzogen. Und sie wußte, irgendwann mußte sie sich Randolph stellen, oder sie würde in der Schule niemals glücklich werden.
»Ich muß es tun, Billie. Sie werden mich nie akzeptieren, wenn ich mich der Probe nicht unterziehe. Aber es wird gutgehen. Du wirst schon sehen.«
3
Joanna klopfte an die Tür von Lisas Zimmer. »Stimmt etwas nicht, Liebes?« fragte sie, als Lisa sie einließ. »Du hast das Abendessen kaum angerührt.«
»Es ist alles in Ordnung, Mutter«, sagte Lisa. »Ich bin nur müde.«
Joanna sah ihre Tochter prüfend an. Sie strich ihr die Haare glatt und fragte: »Läuft in der Schule alles gut?«
»O ja. Es ist wunderbar in der Schule. Und bis du mit Vater zurückkommst, habe ich die Prüfungen für das Winterhalbjahr mit Auszeichnung bestanden!«
Joanna hatte Lisa nicht zu Hause lassen wollen. Aber Kapitän Fielding hatte davon abgeraten, sie mitzunehmen und gesagt, Westaustralien sei kein Platz für kleine Mädchen. Außerdem hatte Lisa ihren Eltern gegenüber betont, sie sei alt genug, um allein zurückzubleiben, und außerdem sei ja Sarah bei ihr. Hugh, Joanna und Kapitän Fielding planten, im Laufe der Woche aufzubrechen. Sie wollten in Melbourne an Bord eines Küstendampfers gehen, der sie nach Perth bringen würde. Adam war bereits abgereist. Er studierte im ersten Semester an der Universität in Sydney.
»Wäre es dir lieber, wir würden nicht fahren, Lisa?« fragte Joanna.
»O nein, du mußt gehen, Mutter. Du mußt den Ort finden, an dem Großmutter geboren worden ist.«
Wenn Joanna Zweifel an ihrer Entscheidung kamen, nach Westaustralien zu reisen, sagte sie sich jedesmal, sie tue es ebenso sehr für Lisa wie für sich selbst. Sie hatte versucht, Lisa zu helfen, damit sie ihre Angst vor Hunden überwand. Aber es war ihr beinahe unmöglich erschienen, denn auch sie litt unter dieser Angst. Und Lady Emily, die sich zeit ihres Lebens ebenfalls schrecklich vor Hunden fürchtete, hatte geglaubt, die Ursache dieser Angst und demzufolge vielleicht auch das Heilmittel dagegen, liege in Karra Karra.
Joanna dachte an die Reise, die sie und ihre Mutter vor fünfzehn Jahren, ehe Lady Emily dem Gift-Gesang zum Opfer gefallen war, beinahe unternommen hätten. Sie fragte sich, ob sie dem Ende dieser Reise nun nahe war, ob sie dicht davorstand, die Aufgabe zu erfüllen, die Lady Emily ihr als Vermächtnis hinterlassen hatte. Am Anfang war es für Joanna eine Verpflichtung gegenüber ihrer Mutter gewesen; es hatte sich in eine Pflicht gegenüber ihr selbst verwandelt, und nun war es etwas, das Joanna für Lisa tun mußte. Es ist wie ein Traumpfad, dachte Joanna, und sein Ende liegt irgendwo in Westaustralien.
Sie sah Lisa an und wollte sagen: ›Ich gehe deinetwegen, mein Liebling, um einen Weg zu finden, der verhindert, daß du dem Gift-Gesang zum Opfer fällst.‹ Statt dessen kam über ihre Lippen: »Ich mache mir Sorgen, daß du uns vermissen wirst, daß du einsam sein wirst.«
»Mir wird es sehr gut gehen, Mutter. Ich finde viele Freunde in der Schule. Und das Lernen macht mir Spaß.«
Außerdem, dachte Lisa, und ihre Zuversicht kehrte zurück, können die Jungen nicht ewig so weitermachen. Irgendwann haben sie die Streiche satt, die sie mir spielen, und akzeptieren mich. Außerdem quälten sie nicht alle Jungen – nur die wenigen, deren Anführer Randolph Carey war. Er würde sicher bald ebenfalls einsehen, daß seine Streiche wirkungslos blieben, und sie in Ruhe lassen. Lisa war nämlich entschlossen, ihm niemals die Genugtuung zu geben, zu zeigen, daß sie aufgab.
4
Am nächsten Tag erschien der Wagen aus Merinda nicht zur gewohnten Zeit am Schultor, und Lisa stand um sieben Uhr abends am Desinfektionsbecken.
Die Jungen tauchten fünf Minuten später auf. Sie trugen eine lange, schmale Planke und legten sie über das breite Becken, durch das man zu Unterrichtszwecken Schafe trieb, um sie zu desinfizieren. Das Becken war etwa sechs Meter breit und mit schlammigem Wasser gefüllt. Der Mond spiegelte sich darin, wenn er hinter den Wolken hervorkam. »Du mußt den ganzen Weg da rüber«, sagte Randolph. »Dann darfst du eine von uns sein.«
Lisa kaute auf
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