Traumzeit
ihrer Unterlippe, als sie die Planke betrachtete. Solange der Mond schien, war sie gut sichtbar, aber wenn Wolken ihn verdeckten, verschwanden Planke und Becken im Dunkeln. Und es war eine sehr schmale Planke, die nur wenige Zentimeter über dem Wasser lag.
Plötzlich kamen Lisa Zweifel, ob es klug gewesen war, Randolphs Herausforderung anzunehmen. Sie blickte über das stille Schulgebäude. Die meisten Gebäude waren dunkel, die Wege wurden von Gaslaternen beleuchtet. Stimmen von anderen Schülern drangen vom Auditorium herüber, und in der Luft lag der Geruch von Kühen und Schafen.
»Na, was ist?« fragte Randolph. »Hast du Angst, es zu versuchen?«
Lisa dachte an die Schlange in ihrem Pult und überlegte, was Mr. MacGregor getan hätte, wenn er sie gesehen hätte. Sie glaubte, Mr. MacGregor war gerecht und würde auf ihrer Seite stehen.
»Na?« sagte Randolph. Lisa sah, daß die Jungen sie beobachteten.
»Wenn ich über die Planke laufe, darf ich eine von euch sein?«
»Ja, ehrlich.«
Lisa ging zu einem Ende der Planke und sah, daß sie noch schmaler war, als sie vermutet hatte. Außerdem hing sie in der Mitte durch. Als sie an sich hinunterblickte, stellte sie erschrocken fest, daß der Rock ihre Füße verdeckte. Sie würde nicht sehen, wohin sie trat.
»Nun mach schon«, drängte Randolph.
Lisa sah zu Billie Addison hinüber, der ihrem Blick auswich. Dann tat sie den ersten Schritt auf die Planke.
Die Jungen standen im Kreis um das Becken und sahen schweigend zu, wie Lisa vorsichtig auf der schaukelnden Planke das Wasser überquerte. Der Mond tauchte auf und verschwand wieder hinter den Wolken. Vom Auditorium drang Lachen herüber. Nebenan im Stall muhte leise eine Kuh.
Lisa setzte mit ausgestreckten Armen vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Dabei richteten sich ihre Augen auf die Planke und das Wasser dicht unter ihrem Rocksaum. Aus Süden wehte ein kalter Wind und kräuselte die Wasseroberfläche. Lisa bewegte sich mit angehaltenem Atem vorwärts.
»Sie schafft es«, sagte einer der Jungen.
»Halt die Klappe«, sagte Randolph.
Lisa spürte, wie ihr Mund trocken wurde, als das Holz unter ihr nachgab. Die Nacht schien plötzlich kälter zu werden. Sie begann zu zittern.
»Die Hälfte hast du hinter dir, Lisa«, sagte Billie.
Sie blieb einen Augenblick stehen. Es kam ihr vor, als werde das Becken breiter, als sei das Wasser tief und kalt. Als der Mond flüchtig hinter einer Wolke hervorkam, sah sie Insekten auf der Wasseroberfläche schwimmen.
»Geh weiter«, sagte Billie leise. »Du schaffst es.«
Lisa setzte sich wieder in Bewegung. Der Wind wurde stärker und zerrte an ihrem Rock. Die Planke schaukelte unter ihren Füßen.
»Sie bringt es fertig!« sagte Declan McCloud.
»Weiter so, Lisa«, sagte ein anderer Junge.
Sie wußte, sie näherte sich der anderen Seite und hob den Kopf. Randolph Carey stand dort und wartete auf sie. Er lächelte.
Plötzlich erstarrte Lisa.
Sie sah den Hund neben ihm. Es war einer der Schäferhunde der Schule.
»Na los, Westbrook«, sagte Carey. »Was hast du denn? Du fürchtest dich doch nicht vor einem kleinen Hund, oder?«
Lisa begann zu zittern. Sie bekam einen trockenen Mund. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie versuchte, nicht auf den Hund zu blicken, nicht an ihn zu denken. Stell einfach einen Fuß vor den anderen, noch einmal und noch einmal – und du erreichst das Ende, sagte sie sich vor.
Aber dann blickte sie in die Hundeaugen, die im Mondlicht golden glänzten. Der Hund knurrte nicht, war in keiner Weise angriffslustig oder bedrohlich. Lisa wußte, er hieß Hexer und war ein netter alter Strolch. Aber er ließ sie nicht aus den Augen.
Und plötzlich sah Lisa die Dingos, die sie angriffen, und Knopf, der verzweifelt versuchte, sie zu beschützen.
Sie spürte, wie sich alles um sie herum anfing zu drehen, und plötzlich hatte sie keinen Halt mehr unter den Füßen. Lisa fiel mit einem lauten Klatschen ins Wasser und ging wie ein Stein unter. Sie geriet in Panik, als das eisige Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug und der schwere nasse Rock sie nach unten zog. Im nächsten Augenblick berührten ihre Hände den Boden. Sie versuchte aufzustehen, aber der Schlamm war zu glitschig. Sie ruderte heftig mit den Armen, schluckte Wasser und rang verzweifelt nach Luft. Plötzlich wurde sie von Billie Addison und Declan McCloud hochgezogen.
Randolph Carey lachte schallend, und ein paar andere fielen in das hämische Gelächter ein. Die nassen Haare
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