Traumzeit
trinken. Leider hatte sie Eric Grahams Hut nicht mitgenommen, den sie vor Tagen entdeckt hatte. Aber in ihrem damaligen Zustand hatte sie nicht daran gedacht, daß er wichtig für sie sein könnte.
Sie ging langsam durch die Halbwüste und hob dabei den Rocksaum, damit er nicht im Sand schleppte. Ihr Weg führte sie an ausgetrockneten Salzseen vorbei, an Büschen, Steppengras und an verkrüppeltem Eukalyptus, der keine Ähnlichkeit mit den großen, anmutigen Bäumen besaß, die auf Merinda wuchsen.
Die Stunden vergingen. Sie hielt ihren Mut aufrecht, indem sie an ihr Heim dachte. Sie rezitierte in Gedanken Hughs Balladen und führte stumme Gespräche mit Lisa und Sarah. Sie stellte sich vor, sie werde plötzlich Lisa finden, die unter einem kleinen Windschutz saß, und sie malte sich das glückliche Wiedersehen aus. Als Joanna feststellte, daß der Tag zur Neige ging, drehte sie sich um und konnte den Eukalyptusbaum, der ihr als Schutz gedient hatte, nicht mehr sehen. Auch das Gelände wirkte plötzlich ganz fremd. Sie wußte nicht, wie weit sie gelaufen war, aber sie hatte quälenden Hunger, und der Durst war unerträglich.
Sie setzte sich in den Schutz einiger Felsen, hoffte inständig, daß dort keine giftigen Schlangen hausten, und hielt den Wasserschlauch lange im Schoß, bis sie sich zu einem einzigen Schluck durchrang.
Panik und Angst überkamen sie wieder. Sie blickte zum Himmel hinauf, aber sie sah keine Sterne und keinen Mond. Ich werde hier sterben, dachte sie, und mußte weinen.
Als sie erwachte, war wieder ein milchigweißer Tag angebrochen. Die Totenstille, die sie umgab, würde sie bestimmt bald zum Wahnsinn treiben. Sie ließ den zweiten Ohrring als Zeichen zurück und legte wieder einen Pfeil aus Steinen. Dann machte sie sich auf den Weg. Sie suchte unter Felsen und in ausgetrockneten Flußläufen nach Wasser. Sie grub unter Büschen und hoffte, dem unversöhnlichen Boden etwas Feuchtigkeit zu entreißen. Um die Mittagszeit trank sie den letzten Schluck Wasser, aber sie nahm den Wasserschlauch mit in der Hoffnung, ihn bald wieder füllen zu können. Der Hunger löste inzwischen heftige Magenkrämpfe aus, und während sie sich mit eiserner Willenskraft zwang, unverdrossen auf den feindseligen Horizont zuzugehen, fürchtete sie sich vor dem schrecklichen Ende, das ihr unausweichlich bevorstand.
Nach etwa ein oder zwei Stunden mußte sie stehenbleiben. Sie wußte, es war sinnlos, einfach weiterzulaufen, ohne zu wissen, wohin sie der Weg führte. Wasser würde bestimmt nicht vom Himmel fallen oder plötzlich aus der Erde sprudeln. Sie mußte es finden, und zwar bald, solange sie noch klar denken konnte.
Sie griff nach ihren langen, herunterhängenden Haaren und steckte sie zu einem Knoten auf. Dann dachte sie an die Frau, die einst mit ihrem jungen Mann und ihrer kleinen Tochter durch diese Wüste gewandert war. »Naomi war stark«, hatten Patrick Lathrop und Elsie Dobson gesagt. Nun wurde Joanna klar, wie stark ihre Großmutter gewesen sein mußte, um hier zu überleben.
Ich bin Naomis Enkeltochter, sagte sie sich mit einem Blick auf die wenig verheißungsvolle Landschaft: Auch ich werde stark sein.
Dann dachte Joanna an ihre Mutter, an Lady Emily. Sie hatte als Kind in Begleitung einer Schwarzen die Wüste durchquert. Wie ist ihnen das gelungen? fragte sie sich. Wie konnten zwei so hilflose Wesen zu Fuß die endlosen Meilen zurücklegen?
Und dann fiel es ihr ein: Sie waren in der Lage gewesen, den Traumpfaden zu folgen.
Natürlich, dachte Joanna, das war die Antwort. Sie hatte versucht zu überleben, indem sie wie eine vornehme junge Engländerin dachte, aber sie hätte wie die Menschen denken sollen, die in diesem Land geboren worden waren – wie die Aborigines. Joanna wußte, daß die Stätten der Traumzeit die Traumpfade miteinander verbanden. Diese Plätze waren die einzelnen Stationen eines Ahnen auf seinem Weg durch das Land, und meistens lagen sie eine Tageswanderung voneinander entfernt. Aber wie sollte sie einen solchen Platz finden?
Joanna drehte sich langsam im Kreis und versuchte, Anhaltspunkte in der kargen Landschaft zu erkennen. Sie sah Felsen, verkrüppelte Bäume, Sanddünen, ausgetrocknete Flußläufe, aber nichts wies auf einen Traumpfad hin. Dann begann sie sich zu fragen, wie ein solcher Weg wohl aussehen mochte.
Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Sarah ihr vor vielen Jahren gesagt hatte, als sie unten am Fluß saßen. Sarah hatte erklärt, die
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